Höch­stleis­tung als Frei­geist – Gießener Anzeiger
25.09.2018

Ein star­kes So­lo: Schau­spie­ler Isaak Dent­ler mit ei­ner Be­ar­bei­tung von Goe­thes Wert­her-Ro­man auf der taT-stu­dio­büh­ne

„Wert­hers Lei­den“: Was für ei­ne trau­ri­ge Ge­schich­te! Da­bei war es bei die­ser Be­ar­bei­tung ei­nes Stücks Welt­li­te­ra­tur na­tür­lich klar, dass es schlecht aus­geht. Trotz­dem war die Trau­rig­keit da. Nach En­de der Vor­füh­rung moch­te zu­nächst nie­mand aus dem Pu­bli­kum die taT-Stu­dio­büh­ne ver­las­sen, al­le blie­ben im Dunk­len sit­zen, wie das manch­mal auch im Ki­no ge­schieht. Mit sei­ner So­lo-Per­for­man­ce war dem Frank­fur­ter Schau­spie­ler Isaak Dent­ler ei­ne be­mer­kens­wer­te Klas­si­ker-Adap­ti­on ge­lun­gen.

Da­bei hat­te al­les grell und ner­vig be­gon­nen. „J’ai­me l’amour a tro­is“ kreisch­te ei­ne fran­zö­si­sche Sän­ge­rin in End­lossch­lei­fe auf Band. Doch Wert­her sieht die Sa­che ein we­nig an­ders. Isaak Dent­ler bläst ei­nen Luft­bal­lon auf, malt ei­nen Kopf drauf und lässt den Bal­lon plat­zen. Peng: Das dra­ma­ti­sche En­de ist hier ge­wiss­er­ma­ßen schon vor­weg­ge­nom­men.

Selbst­mord­wel­le aus­ge­löst

„Am 4. Mai 1771. Wie froh bin ich, dass ich weg bin. Be­ster Freund, was ist das Herz des Men­schen“. Hier setzt Dent­ler mit dem Ori­gi­nal­text von Jo­hann Wolf­gang von Goe­the ein. Ein 22 Jäh­ri­ger schreibt in Ich-Form die Ge­schich­te ei­nes un­glü­cklich ver­lieb­ten jun­gen Man­nes auf, der an sei­nen Ge­füh­len zu­grun­de geht. Das Buch wur­de ein in­ter­na­tio­na­ler Best­sel­ler, so wür­de man heut­zu­ta­ge sa­gen. Das Er­schei­nen im Jahr 1774 lös­te so­gar ei­ne Selbst­mord­wel­le aus, so sehr konn­ten sich die jun­gen Men­schen da­mals mit dem Schi­cksal Wert­hers iden­ti­fi­zie­ren.

Mit sei­nem So­lo ge­lingt es Isaak Dent­ler, den Wert­her auch jun­gen Men­schen des 21. Jahr­hun­derts na­he­zu­brin­gen. Im schwar­zen Geh­rock ge­klei­det, muss sich der Pro­ta­go­nist erst ein­mal in der Fer­ne zu­recht­fin­den. Die Ta­ge wol­len nicht ver­ge­hen, 3., 4., 5. Mai, es ge­schieht nichts, 10. Mai, end­lich wie­der ein Ein­trag. „Ich bin al­lein und freue mich mei­nes Le­bens in die­ser Ge­gend, die für sol­che See­len ge­schaf­fen ist wie für die mei­ne“. Als er die­se Wor­te spricht, sitzt Isaak Dent­ler un­ter ei­ner De­cke. Das mö­gen über­trieb­ene Ge­sten sein, ge­nau­so wie das Wer­fen von Ka­ra­mell­bon­bons der Mar­ke „Wert­her’s Ech­te“ ins Pu­bli­kum oder wie die Rutsch­par­tie quer über die Büh­ne. An­de­rer­seits: War der Wert­her nicht ge­nau so – exal­tiert und ein biss­chen über­trie­ben?

Dann kommt der 16. Ju­ni­us: „Ich ha­be ei­ne Be­kannt­schaft ge­macht, die mein Herz nä­her an­geht“. Wert­her hat sei­ne Lot­te ken­nen­ge­lernt und weiß nicht mehr ein noch aus. „Son­ne, Mond und Ster­ne, ich weiß oft nicht, ob Tag oder Nacht ist“. Wert­her fer­tigt ei­nen Sche­ren­schnitt sei­ner An­ge­be­te­ten an, Dent­ler tut’s ihm gleich und fügt noch ei­ne Krei­de­zeich­nung hin­zu, auf der Lot­te in gan­zer Ge­stalt zu se­hen ist. Doch der Wen­de­punkt ist bald er­reicht. Lot­tes Ver­lob­ter Al­bert kommt von ei­ner Rei­se zu­rück, und Wert­her be­schließt, nun sei­ner­seits wei­ter­zu­zie­hen … Das En­de ist be­kannt. Wert­her ver­geht vor Lie­bes­kum­mer, hin­zu­kom­men Al­ko­ho­lex­zes­se und Är­ger mit den Vor­ge­setz­ten. „Wenn wir uns selbst feh­len, fehlt uns al­les“, schreibt Wert­her noch im Au­gust. Die De­pres­si­ons­schü­be wer­den im­mer län­ger, im De­zem­ber ist es so­weit: Der Un­glü­ckli­che setzt sei­nem Le­ben mit ei­nem Schuss ins rech­te Au­ge ein En­de. Mu­sik­ein­spie­lung da­zu: „Su­gar Man“ von Six­to Ro­dri­gu­ez. Sehr pas­send, sehr emo­tio­nal.

Be­geis­ter­ter Ap­plaus für das ein­stün­di­ge So­lo, das dem Schau­spie­ler Höch­stleis­tun­gen ab­ver­lang­te: beim Spre­chen, beim Spie­len, beim Sich-Ver­aus­ga­ben. Und noch ein di­ckes Plus geht an die­se Wert­her-Auf­füh­rung: Das sach­kun­di­ge Aus­su­chen von Zi­ta­ten aus dem 130-Sei­ten-Werk er­mög­lich­te dem Pu­bli­kum ei­nen in­ten­si­ven Ein­blick in die­ses Stück Welt­li­te­ra­tur.

100 Mal in Frank­furt

Ein Wort zum Schau­spie­ler: Isaak Dent­ler ist mit sei­ner Goe­the-Be­ar­bei­tung schon zum drit­ten Mal zu Gast im taT. In Frank­furt hat er den „Wert­her“ so­gar 100 mal ge­zeigt, was sei­nen Er­folg des Stücks kennt­lich macht. Und auch in Gie­ßen ist Dent­ler kein Un­be­kann­ter: Nach sei­ner Schau­spiel­aus­bil­dung in Ham­burg nahm er sein er­stes En­ga­ge­ment 2004 beim Stadt­thea­ter Gie­ßen an, wo er un­ter an­de­rem als Don Car­los und Tor­qua­to Tas­so auf der Büh­ne stand. Seit 2009 ist er fes­tes En­sem­ble­mit­glied des Frank­fur­ter Schau­spiels. Pa­ral­lel zu sei­ner Thea­ter­ar­beit ist Isaak Dent­ler re­gel­mä­ßig im TV zu se­hen, un­ter an­de­rem spielt er seit 2014 fest in der Er­mitt­ler­trup­pe um Wolf­ram Koch und Mar­ga­ri­ta Bro­ich im ARD-„Ta­tort“ aus Frank­furt. Er ar­bei­tet re­gel­mä­ßig als Spre­cher für den Rund­funk und in den ver­schie­dens­ten Me­dien, sei­ne Stim­me ist in zahl­rei­chen Hör­spie­len und Ra­dio-Fea­tu­res zu hö­ren.


Ulla Hahn-Grimm, 25.09.2018, Gießener Anzeiger