Im neuen musikalischen Gewand - operalounge.de
11.01.2022

Im neuen musikalischen Gewand: Bellinis Zaira am Stadttheater Giessen

Vor etwas mehr als vier Jahren erlebten wir im Komödienhaus Wilhelmsbad in Hanau eine faszinierende Aufführung von Carlo Coccias Caterina di Guisa durch I Virtuosi ambulanti. Im beengten  Orchestergraben saßen die Mitglieder der Camerata Mainzer Virtuosi, insgesamt nur fünf Streicher und zehn Bläser, dazu eine Harfenistin.

Daran erinnerte ich mich, als ich die Ankündigung des Stadttheaters Giessen für seine Produktion von Zaira las: „Ein Bellini stilistisch gerecht werdendes Klangbild garantiert die eigens für Gießen entstandene Orchestrierung von Herbert Gietzen“. Gietzen, Komponist und  Arrangeur, erläutert sein Konzept so: “Mein musikalischer Ansatz ist nicht nur praktisch [Corona lässt grüßen], sondern auch historisch begründet: Ein paar Jahrzehnte vor der Uraufführung von Zaira wurden die Secco-Rezitative – wie größtenteils in meinem Arrangement – ja noch von Klavier plus Solocello begleitet“. Und so finden wir im Giessener Orchestergraben neben dem Dirigenten dreizehn Musiker: Neben einem „Streichquartett“ aus zwei Violinen, Violoncello und Kontrabass sind Oboe (Englischhorn ad lib.), Flöte, Klarinette, Horn, Fagott und Schlagwerk sowie als „Joker“ Klavier, Harmonium und Harfe beteiligt. Das funktioniert durchaus, gibt dem Klang aber eine rhythmische Härte und stößt in den Chor- und Ensembleszenen an seine Grenzen.

Dass Bellinis fünfte Oper bei ihrer Uraufführung am 16. Mai 1829 im hiermit neu eröffneten Teatro Ducale in Parma (dem heutigen Teatro Regio) ein Misserfolg war, ist hinlänglich bekannt, wenn auch nicht     vollständig geklärt. Der diese Produktion begleitende Dramaturg Samuel C. Zinsli hat hierzu einen informativ-unterhaltsamen Beitrag im Programmheft geschrieben. Zu diesen komplexen Versuchen einer Analyse gehört sicher auch die hingeworfene Bemerkung des Librettisten Felice Romani in seinem „Vorwort des Autors“, in dem er selbst eigene Schwachstellen seiner Arbeit (Stil, unnötige Wiederholungen) bemängelt und dann summarisch konstatiert, dass „Dichtung und Musik in weniger als einem Monat geschrieben wurden“.

Bellini reagierte auf diesen Reinfall in seiner Karriere, indem er wesentliche Bausteine und Melodien in seine nächste Oper übernahm.  Dieses sein neuestes Werk I Capuleti e i Montecchi erblickte nur ein knappes Jahr später das Bühnenlicht und wurde sofort ein großer Erfolg. Unter den meist nur partiell „parodierten“ Stücken finden sich u.a. Corasminos Cavatina, Zairas Cavatina und Cabaletta, das Duett Zaira/Nerestano (alle im 1. Akt); Nerestanos Rondo und Cabaletta, Zairas Arie und Cabaletta (alle im 2. Akt). Bellini selbst fasste diese Prozedur in die Worte: “Zaira ist durch I Capuleti e i Montecchi gerächt worden.“

Quelle für Romanis Libretto war Voltaires 1732 geschriebene fünfaktige Tragödie Zaire, die Grundlage für insgesamt 13 Opern werden sollte, deren bekannteste neben Bellinis Misserfolg vielleicht das gleichnamige Melodramma tragico von Mercadante aus dem Jahre 1831 mit dem weitgehend identischen Libretto von Felice Romani sein dürfte. Ausschnitte hiervon konnte man in konzertanter Form 2006 im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier  hören.

Romani betont in seinem „Proemio dell’autore“ ferner, dass – trotz der Gattungsbezeichnung tragedia lirica – Zaira nicht eine Tragödie, sondern ein Melodrama sei. Er habe auch die Zurschaustellung philosophischer Themen, die zur Zeit der Entstehung von Voltaires Zaire im Schwange waren, zugunsten der Sprache der Leidenschaft beiseitegelassen. Wieviel dem französischen Aufklärer dieses Stück bedeutete – er nannte es „die einzige zärtliche Tragödie, die ich geschrieben habe“ – wurde in Giessen durch den gelungenen mehrmaligen Auftritt des alternden Voltaire als Puppe (Francesco Rescio) sichtbar, dessen Originaltexte aus dem Off rezitiert wurden, deren Übersetzung auf Vorhänge projiziert den Handlungshintergrund verdeutlichten.

Dass diese Aufführung auch ein Fest für die Augen wurde, lag an dem großartigen Bühnenbild von Lukas Noll, der auch für die stilvollen prächtigen Kostüme ( u.a. aus goldenen Brokatstoffen) verantwortlich zeichnet. Videotechnisch unterstützt und erweitert mit Spiegeleffekten beherrschen orientalische Muster und Spitzbögen sowie farbenprächtige Ornamentik den Sultanspalast, der auf zwei Ebenen mit einer Vielzahl ineinander verschachtelter kleiner Gemächer (von Corasminos Amtszimmer bis zum Gefängnis) bespielt wird. Umso packender wirkt dann die durch ein wunderschönes Oboensolo eingeleitete dramatische Finalszene, wenn auf leerer, völlig dunkler Bühne die Protagonisten von Lichtkegeln begleitet im Quintett fast statisch das tragische Ende heraufbeschwören. Regisseur Dominik Wilgenbus hatte sich dafür entschieden,  dass Orosmane nach der Ermordung seiner Geliebten sich nicht das Leben nahm, sondern – abweichend vom Librettotext – mit dieser Schuld weiterleben musste – vielleicht ein schlimmeres Schicksal!? So saß er am Ende da wie ein Häufchen Elend, mit dem Hochzeitskleid Zairas in Händen.

Dieses Bildertheater und die Soloarien, Duette und Tableaus erzählen uns nachvollziehbar die Geschichte und Gefühlswallungen rund um diese letztlich gescheiterte Liebe zwischen dem muslimischen Sultan Orosmane und seiner christlichen Sklavin Zaira zur Zeit der Kreuzzüge. Eine bewegtere und  präzisere Personenführung wird so nicht wirklich vermisst, und man stört sich auch nicht am ab und zu unverhohlen präsentierten Rampensingen, wenn die vokalen Leistungen so beeindrucken wie an diesem Abend.

Die in Länge und Tessitur enorm anspruchsvolle Titelpartie sang Naroa Intxausti, die in Giessen u.a. schon als bezaubernde Linda di Chamounix zu hören war. Koloratursicher bot sie  insgesamt eine hervorragende Leistung, auch wenn sich in der Höhe eine gewisse Schärfe nicht überhören ließ. Leonardo Ferrando (Corasmino) brillierte in seiner hoch liegenden Tenorpartie als Wesir und intrigierender Berater des Sultans von Anfang an: in seiner Auftrittsarie (mit glänzendem finalem Acuto) ebenso wie in seinem koloraturgezeichneten Duett mit Sultan Orosmane. In dieser Rolle als liberal-toleranter muslimischer Herrscher überzeugte der wunderbar kraftvolle Bass-Bariton Marcell Bakonyi mit beweglicher Stimmführung. Eine veritable Entdeckung war für mich die begeistert vom Publikum gefeierte Mezzosopranistin Na’ama Goldman als Bruder und vermeintlicher Liebhaber Zairas mit warm tönender Tiefe ebenso wie mit dramatischen Ausbrüchen in der Höhe. Die einzige historisch greifbare Figur des dramatischen Geschehens ist  Lusignano – der 1194 gestorbene ehemalige christliche König von Jerusalem Guy de Lusignan -,  eindrucksvoll gestaltet vom Bassisten Kouta Räsänen. Zairas christliche Sklavenfreundin und kritische Mahnerin Fatima sang und spielte überzeugend Sofia Pavone, und in weiteren Nebenrollen waren  Kornel Maciejowski als französischer Ritter Castiglione und Josua Bernbeck als Meledor, Beamter des Sultans, zu hören. Beide sind Mitglieder des von Jan Hoffmann einstudierten Chores, der mit seinen 14 Sänger(inne)n  prächtig und kraftvoll sang. Sein Auftritt in der 3. Szene des 2. Aktes, eine der genialsten Chormelodien Bellinis (ursprünglich für Bianca e Fernando komponiert und dann nochmals in Norma eingesetzt), war ein Ohrenschmaus. Jan Hoffmann war auch ein umsichtiger Leiter dieser kleinen Besetzung im Orchestergraben und sorgte für den belcantesken Klangzauber der Bellinischen Melodien.

Das Fiasko der Uraufführung der Zaira hatte insofern direkte Folgen, als nach den angesetzten Folgeaufführungen nur noch Aufführungen 1836 in Florenz stattfanden. 140 Jahre später gab es dann die erste neuzeitliche Wiederaufführung in Catania, der weitere Produktionen ebendort (1990) sowie in Gelsenkirchen (2006), Montpellier (2009) und Martina Franca (2016) folgten. Nach dieser glänzenden Vorstellung im Stadttheater Giessen, einer weiteren Perle in seiner Kette von Belcanto-Raritäten,  bleibt zu hoffen, dass diese ältere Schwester von I Capuleti e i Montecchi auch wegen ihrer Thematik bald das Repertoire weiterer Bühnen bereichern wird.


Walter Wiertz, Dez. 2021, operalounge.de