Im Rausch der Sinnlichkeit - Gießener Allgemeine Zeitung
07.06.2022

Sie ist der Höhepunkt eines jeden TanzArt-ostwest- Festivals: die Gala am Pfingstmontag. Diesmal gibt es im Stadttheater auch einen wehmütigen Moment.

Am Ende ist er dann doch gerührt. Ballettdirektor Tarek Assam, der nach fast 20 Jahren das Stadttheater verlässt, bedankt sich als Moderator der TanzArt-Gala bei allen Beteiligten. Er erntet Standing Ovations. Intendantin Cathérine Miville überreicht ihm einen Strauß Rosen. Assam verdrückt heimlich eine Träne in seinen neuen Anzug, den er während der Show scherzhaft thematisiert hatte.

Das Publikum erlebt zuvor einen temporeichen Querschnitt tänzerischer Sinnlichkeit. Zwölf Compagnien haben am Montag im Großen Haus zum krönenden Abschluss des TanzArt-ostwest-Festivals alle Blicke auf sich gezogen.

Der Pas de deux liegt nach wie vor im Trend. Fünf Duette stehen auf dem Programm, weitere sind in Gruppenszenen integriert. Besonders die Hebefiguren haben an Spannung und Intensität gewonnen. In zwei Choreografien kehrt der Spitzentanz zurück. Leider kommt der Humor etwas zu kurz. Liebe, Macht und Tod regieren.

Auch bei der Farbwahl der Kostüme ist Luft nach oben. Schwarz und Grau dominieren. Aus Bern kommt ein Tupfer Gold. Lediglich die Gießener Compagnie mag es in ihrem »Elektra«-Auszug pastellfarben. Und dann ist da noch die Carmen in ihrem roten Kleid. Léa Périchon aus Koblenz gibt ihr Solo »La libertat« in einer Ausformulierung von Steffen Fuchs zum Besten. Den nicht von Bizet stammenden Song singt das Herren-Quintett Lo Cor De La Plana.

Wieder einmal wird deutlich: Klingt die Musik spannungsreich, bejubelt das Publikum das Gebotene umso mehr. Wie beim Pas de trois aus St. Gallen, der Einblick in das Stück »The Banquet« gewährt. Pamela Campos, Guang-Xuan Chen und Dustin Elliot stehen zur Minimal Music von Philip Glass im Showroom der Gefühle. Bekleidet mit schwarzen Hosen und nackten Oberkörpern lotet das Trio in der Choreografie von Kinsun Chan die Zerrissenheit des Individuums aus.

Das Staatstheater Kassel präsentiert als Ensemble einen Ausschnitt aus »Janus« in der Choreografie von Noa Wertheim. Die lautstarke Musik hat DJ Randomhype gemischt. Er gibt den Tänzern Raum. Sie füllen ihn mit Ausdruck.

»Wieso ist die Nase blau?« fragt das Ballett Chemnitz, auf den Spuren des Expressionisten Karl Schmidt-Rottluff wandelnd. Savanna Haberland und Emilijus Miliauskas zeigen als Brautpaar Bewegendes von Katarzyna Kozielska. Den Sound steuert Henryk Górecki bei.

Willer Rocha und Mirko Ingrao vom Ballett des Theaters in Pforzheim widmen sich in »Freedom« dem Pas de deux zweier Männer, denen Ballettdirektor Guido Markowitz mithilfe der nachgesungenen Musik von Elton John pulsierende Bilder gönnt.

Beim Theater Nordhausen erdichten sich fünf geschmeidige Herren als »Poeten« ihr Glück. Oder Unglück. Die intensive Arbeit von Ivan Alboresi setzt auf Musik von Angelo Lomelo und Mohsen Namjoo.

Das Berner Ballett verortet eine Passage aus dem Tanzabend »La Davina Comedia« im Purgatorium. Choreografie plus Kostüme hat Estefania Miranda ersonnen. Sie wagt sich, musikalisch unterstützt von Arvo Pärt, auf eine Reise durch das menschliche Bewusstsein.

Die Trierer indes haben im Sommer einen prächtigen »Winter« nach Vivaldis »Vier Jahreszeiten« in der Choreografie von Roberto Scafati mitgebracht, während das Tanztheater Braunschweig nach den Klängen von Hans Zender zur »Winterreise« aufbricht. Alice Baccile und Joshua Haines gehen in der Arbeit von Gregor Zöllig auf schweißtreibende Tuchfühlung.

Aus Bremenhaven ist das »Ultima Duo« zu Gast. Ting-Yu Tsai und Stefano Neri vertanzen in der Choreografie von Sergej Vanaev ihre Beziehung. Von Franz Liszt nach Ideen von Niccolò Paganini stammt die Klaviermusik: »La Campanella«. Das Augsburger Ballett bringt als Premiere »Amity« auf die Bühne. Terra Kell und Jayson Syrette (auch zuständig fürs Konzept) nehmen in ihrem Duett kein Blatt vor den Mund. Das Publikum jubelt allenthalben.


Manfred Merz, 07.06.2022, Gießener Allgemeine Zeitung