Jesus in alltäglichem Licht - Gießener Anzeiger
18.12.2017

Die Pankratiuskapelle ist ein echter Festspielort geworden. Die Weihnachtskonzerte der Schulen, bis letztes Jahr die Drei Stimmen, bezaubernd abgelöst durch Julia Lißel - und jetzt Judas. Den wollten viele sehen, und so war das Haus am Samstag voll mit Christian Lugerths Inszenierung von Lot Vekemans "Judas". Pascal Thomas räumte mit seinem intensiven Spiel voll ab.

Christian Keul lieferte versiert verschiedene stimmungsvolle Orgelmusiken und gab Stichworte. In einer Zusammenarbeit mit der evangelischen Stadtkirchenarbeit erschloss sich das Theater hier einen neuen Spielort, und siehe, es funktionierte gut. Es ist ja auch eine interessante Idee, den Erz- und Urverräter Judas Iskarioth mal selbst zu Worte kommen zu lassen und die Figur aus anderen Blickwinkeln zu betrachten, ihn gleichsam als Zeitzeugen reden zu lassen.

Christian Lugerths Inszenierung (Dramaturgie Monika Kosik) bespielt zum einen den Raum und nutzt seine begrenzten dramatischen Möglichkeiten klug, aber nicht übertrieben aus. Und Pascal Thomas ist genau der Richtige, um die Sache quicklebendig zu realisieren. Mit sichtbar größter Spielfreude zischt er durchs Kirchenschiff, flitzt auf die Empore hinauf oder spricht von der Kanzel zum Volk. Dabei behält er selbst bei den ganz großen Themen seine große Natürlichkeit - und ebensolchen Charme. Christian Keul liefert einmal mit einem Auszug aus "A whiter shade of pale" einen frischen modernen Bezug, ansonsten passt er verschiedene klassische Orgelmotive ins Stück ein.

30 Silberlinge

Man geht davon aus, dass Judas für 30 Silberlinge Jesus an die Hohepriester verkaufte. Nur über sein Motiv ist nichts Brauchbares überliefert. Das Stück blickt gleichsam auf die Grundlagen der Tat: Habgier, Zweifel am Glauben, am Messias oder vielleicht Enttäuschung? Interessant sind die Aspekte, die sich aus Judas' Blick auf Jesus ergeben. "Er konnte hinter die Dinge schauen", sagt er einmal, und "jeder wollte zurück zum Glauben, ganz sicher sein." Zumindest in der Weihnachtszeit konnte man diesen Eindruck haben, es ist einer von einigen modernen Aspekten, die die Autorin ganz unauffällig einfließen lässt. Insofern ist dieser Judas ein heutiger Mensch, der sich heutige Gedanken macht und Fragen stellt. Und die Zuhörer zu kritischer Distanz ermuntert: "Versuchen Sie nicht, etwas zu begreifen", obwohl das natürlich alle wollen. Judas lässt Jesus in ganz alltäglichem Licht erscheinen ("Ich hätte als Führer mehr von ihm erwartet"), und im Nu versetzt man sich in die von Thomas farbig geschilderte jeweilige Szene hinein und verspürt ein merkwürdig authentisches Gefühl. Und er schafft den glaubhaften Eindruck, dass dieser Judas zwar sehr greifbare Motive hatte ("Ich wollte zu den Herrschenden gehören"), aber nicht irgendein Gauner war, sondern ein wahrer Jünger, dessen Glaube eben erschüttert wurde.

Der größte Reiz des Stücks liegt in der einleuchtenden Schilderung der ja nur überlieferten Umstände als höchst widersprüchliches aber realistisches Szenarium - das die Zeitgenossen heftig verwirrt haben dürfte. Überaus anregend finden das auch die hingerissenen Zuschauer und schenken den Darstellern drei "Vorhänge", die sie für dieses kraftvolle Stimulans wirklich verdient haben.
 

Heiner Schultz, 18.12.2017, Gießener Anzeiger