Karussellfahrt mit Kostümbauch - Gießener Anzeiger
28.03.2022

Eine gewitzte, pralle, bonbonbunte Neubearbeitung des Shakespeare-Lustspiels »Falstaff« feierte Premiere im Stadttheater Gießen.

Ein bonbonfarbenes, witziges und hochdramatisches Stück Theater ist die neue Schauspielproduktion »Falstaff« in der Regie von Malte C. Lachmann, die am Samstagabend ihre Premiere im Großen Haus des Stadttheaters feierte. Allen voran mit Tom Wild als Titelheld Falstaff gibt das Ensemble nicht nur seinem Affen Zucker, sondern holt auch das letzte Quäntchen darstellerische Energie aus sich heraus, während eine uhrwerkhaft präzise Inszenierung abläuft: Diese Shakespeare-Variation des Autors, Übersetzers und Dramaturgen Andreas Marber ist ein großer Spaß.

Schon der Anblick der beiden Hauptfiguren Falstaff (blutvoll überschäumend: Wild) und Prinz Heinrich (hochprägnant und zeitweise eiskalt: Pascal Thomas) vor dem Vorhang zu Beginn macht klar, dass an diesem Abend nichts Alltägliches passieren wird. Die Figuren sehen in ihren farbenprächtig-eleganten Klamotten surreal aus. Die prachtvollen, geschmackvoll übertriebenen Kostüme von Kathrin Krumbein verleihen der Sache ein unmissverständlich clowneskes Timbre und sind sehr schön anzuschauen - die Direktion zeigte sich offenbar spendabel bei dieser Produktion.

Zugleich transportieren die Ensemblemitglieder Wild und Thomas mit präziser Mimik eine große Lebendigkeit, die von ihrem Makeup noch unterstützt wird: Falstaff wirkt wie ein Clown, der nur die Freuden des Leibes im Sinn und einen prächtigen Kostümbauch hat, der Prinz trägt als Gesicht den berühmten Hamlet-Totenschädel, was einen dauerhaft irritierenden Eindruck macht.

Die beiden Herren pflegen eine innige Beziehung, sie turteln selbst im Streit intim miteinander, alles deutet auf eine erotische Liaison hin, aber das wird auf der Bühne nicht geklärt. Jedenfalls stimmt so einiges nicht zwischen ihnen.

Zirkusarena mit Accesoires

Die Bühne ist hier eine Zirkusarena mit allerlei surrealen Accessoires - ganz oben rotieren eine Bahnhofsuhr und eine Königskrone, darunter steht eine Zebrafigur auf einem abstrakten Betonkonstrukt als Mix zwischen Schwimmbad und Industriearchitektur. Unten ein Karussell mit Pferdchen. Die auch das Bühnenbild verantwortende Kathrin Krumbein schuf ein bis ins Detail ausgefeiltes Technicolor-Schlachtfeld, das zusammen mit den Kostümen den entscheidenden Eindruck herstellt: Alles nur Theater. Oder »All the world’s a stage«, wie Vorlagengeber William Shakespeare schrieb.

Nichts in dieser Welt scheint verlässlich, genau das ist die Lage. Autor Marber schuf ein sprachstarkes Tableau, auf dem die aristokratische Lebensart und der historische Kontext nur als Zutaten dienen. Die fein ziselierten Dialoge wimmeln zwar von modernen Kraftausdrücken (Falstaff: »Du vielgefickte Majestät«), aber auch antiautoritären Aspekten (»Das Strafgesetz? Verderbt, ein sittliches Desaster«), wenn Falstaff sich über die Plagen der »Festangestellten der Nacht« beschwert. Tatsächlich handelt es sich bei den Figuren außer dem Kronprinz nach heutigen Maßstäben ja schlicht um Gesindel, auch wenn sie gerade eine Doppelrolle als Hochgestellte spielen.

Da passt es, wenn David Moorbach seinen »Bardolf, ein Straßenräuber« mit allerlei Macken ausstattet und Lukas Goldbach (Ned) mit austariert clowneskem Flair agiert. Stephan Hirschpointner als sexuell uneindeutiger Depp vom Dienst Kevin agiert lustvoll und präzise. Besonders Anna-Elise Minetti als regelmäßig ausrastende Kneipenwirtin »Quickie« macht viel Freude. Bei allem glänzt die Inszenierung mit großer sprachlicher Genauigkeit und Feinarbeit in der Choreographie. Auch die Crossover-Requisiten passen zu diesem Stil, sie sind allesamt überzeichnet, sodass dem Ganzen ein gewisser Punk innewohnt.

Die kammermusikalische Begleitung zu dieser Karussellfahrt kommt mit ebenso verspielter Schrägheit daher. Marcel Rudert (Gitarre, Snare Drum, Irische Bouzuki), Patricia Pinheiro (Oboe, Englischhorn), Aleksander Zhibaj (Cello) sind daran beteiligt. Sie sorgen für eine weitere Facette des etwas zu lang geratenen Spektakels, aber Shakespeare ist schließlich immer lang.

Insgesamt bringt die zugleich temporeiche wie sensible Inszenierung die Qualitäten des Genres Theaterkomödie auf den Punkt und bringt, mit süffiger Vulgarität und Slapstickgenuss, das Universum Shakespeares wunderbar zum Klingen: ein Vergnügen.


Heiner Schultz, 28.03.2022, Gießener Anzeiger