Kein »ganz normaler Theaterabend« - Gießener Allgemeine Zeitung
25.04.2022

Schon so manche Festveranstaltung ist aus dem Ruder gelaufen. Auch die Feier von Wohl Media in der Stückentwicklung »Brave Kids« im Stadttheater gerät zum turbulenten Jahrmarkt der Eitelkeiten, Pannen und Nervenzusammenbrüche. Doch weil das Publikum dabei von hinten zuschaut, ist alles ein riesengroßer Spaß - und die letzte Regiearbeit der scheidenden Intendantin Cathérine Miville.

Anfangs sieht alles nach einer drögen Jubiläumsveranstaltung aus. Das Publikum sitzt im Zuschauerraum, hört einem klassischen Quartett der Musikschule zu, erwartet eine unendliche Aneinanderreihung von Festreden. Doch weil an diesem Abend das 100-jährige Jubiläum der imaginären Wohl Media AG gefeiert werden soll - und im echten Leben auch die letzte Regiearbeit von Intendantin Cathérine Miville am Stadttheater - kommt alles anders. Zum Glück, denn die folgenden gut zweieinhalb Stunden sind von einem langweiligen Festakt - aber auch von einem »ganz normalen Theaterabend«, wie es am Ende ironisch heißt - meilenweit entfernt. Die Zuschauer erleben die Gala nämlich als VIP-Gäste (samt entsprechenden Armbändchen »exklusiv for winners«) im Backstage-Bereich, amüsieren sich über Pleiten, Pech und Pannen und feiern die Stückentwicklung »Brave Kids« mit Standing Ovations.

Fake-Grußwort des Bundespräsidenten

Mivilles Uraufführung, im Team mit Poetryslammer Lars Ruppel (Texte) und dem musikalischen Leiter Andreas Kowalewitz entstanden, ist als multimediales Spectacle ein Parforceritt durch die Welt von Medien, Macht und Geld - und bietet zugleich einen Einblick hinter die Showkulissen. Da muss improvisiert werden, sprengt die schrille Influencerin Larissa Sternenstaub (Carla Maffioletti) die Proben, erstickt die toughe Eventmanagerin Bogdanovic (Carolin Weber) ihre Wutschreie im von der Assistin gereichten Kissen, fürchtet die abgebrühte Wohl-Media-Geschäftsführerin (Karola Pavone), dass am Spendentelefon mit den »Fame-Flittchen« - von Heidi Klum bis Markus Lanz - nicht genug fürs Image zusammenkommen könnte. Doch am Ende stimmt die Quote des vom Media-Imperium neu gegründeten TV-Senders. Schließlich erweisen sich die braven Choristen des »Stipendiaten«-Chors, die zum Festakt Melodien aus dem Film »Die Kinder des Monsieur Mathieu« singen, als »Brave Kids«, also wahrhaft tapfer - und hacken mit Handys das Grußwort-Streaming des Bundespräsidenten. Statt des erwarteten Shitstorms folgt der virtuelle Like-Rekord, geht das Bekenntnis Steinmeiers, seine Generation habe es »verbockt«, um die Welt.

Miville setzt all das mit Tempo und sicherem Gespür für das pefekte Timing in Szene. Alles geht in der von Lukas Noll entworfenen Backstage-Bühne (Kostüme: Lucia Becker) Schlag auf Schlag. Meckereien der Bühnenarbeiter, die realitätsfernen Einwürfe der Betriebsratsvorsitzenden und des Integrationsbeauftragten, die KI-Kommentare eines Proben-Computers, der nerdige Gesangsauftritt der auf ihre 15 Minuten Ruhm hoffenden IT-Abteilung, die Bonmots des von Dramaturg André Becker herrlich schrullig verkörperten Mimen alter Schule, der gurueske Auftritt des Medienmoguls Dr. Dr. Wohl (Harald Pfeiffer) - das Publikum hat an all dem seinen großen Spaß.

Doch eigentlich geht es um mehr als bloßes »Entertainment at its best«. Die gemeinsam mit Lars Ruppel geschriebenen Texte - hier wird Mivilles Politkabarett-Vergangenheit bei der »Lach- und Schießgesellschaft« deutlich - sind voller Anspielungen auf die »schöne neue Welt«. In der missbrauchen Medien ihre Macht, hinterlassen wir der Jugend einen geschundenen Globus und gehen Kunst und Kommerz eine fatale Liason ein. »Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge Schatten«, spottet Chorleiter (Tomi Wendt) und die Wohl-Geschäftsführerin (Karola Pavone) macht sich mit einem Boogie-Woogie über TV-Mann Markus Lanz lustig. Der Investor aus Katar (Tom Wild), der im Medien-Geschäft Profite erhofft, oder der sarkastische Stage-Manager (Sebastian Songin), der sich mit Showstar und Moderatorin Mira La Grande (Sophie Berner) über den monitären Wert künstlerischer Arbeit streitet, streifen Themen, die hinter der bunten Show-Glitzerfassade Abgründe vermuten lassen.

Showauftritt und Revolution

Bevor die »Brave Kids« endgültig zur »Revolution for Future« aufrufen - und gleich schon von Eventmagerin und Media-Geschäftsführerin für deren eigene Zwecke missbraucht werden sollen - verwandelt sich der Backstage-Bereich noch einmal zur echten Bühne. Sophie Berner und Andrea Matthias Pagani vertreiben sich Wartezeit mit einem Medley ihrer glanzvollen Gießener Auftritte, singen Auszüge aus »Kuss der Spinnenfrau«, »Cabaret« oder ihrem Marilyn-Monroe-Abend »I wanna be loved by you« - und das Publikum ist begeistert. Mit ausdauerndem Jubel samt Standing Ovations für alle »Brave Kids«-Beteiligten, allen voran die Intendantin, endet die Vorstellung, die eben alles andere als ein »ganz normaler Theaterabend« war.


Karola Schepp, 25.04.2022, Gießener Allgemeine Zeitung