Kopfüber in den Abgrund - Gießener Allgemeine Zeitung
29.01.2022

Regisseur Christian Fries macht es dem Publikum mit seiner Bühnenversion des Dostojewksi-Klassikers »Die Brüder Karamasow« nicht leicht. Wer aber den strapaziösen Einstieg überstanden hat, der bekommt den Roman als Essenz: ein wenig schrill, aber durchaus beeindruckend.

Per Video stellen sich die Figuren zu Beginn vor, ziehen Grimassen und albern herum. Danach erklingen minutenlang nur ihre Stimmen aus dem Off. Während die Zuschauer auf den mit Kühlschrank, TV, wenigen Möbeln und einem Lagerzaun karg bestückten Bühnenraum (von Ausstatterin Imme Kachel) blicken, wird klar, dass sie Ohrenzeugen eines Gelages werden. Sauferei, Affären, Intrigen, Mordgelüste im Hause Karamasow - es ist schwierig, da den Überblick zu behalten. Doch wer die verwirrend-polyphone Einstiegssequenz im ATWler-Stil überstanden hat - etwas, dem sich nicht alle im Saal00 aussetzen wollen - der wird in den folgenden zweieinhalb Stunden der Aufführung von »Die Brüder Karamasow« belohnt. Der versierte Textanalytiker Christian Fries hat den Weltliteraturklassiker von Fjodor M. Dostojewski - immerhin einen gut 1000-seitiger Roman - klug auf den wesentlichen Erzählstrang komprimiert und für die Bühne tauglich gemacht.

Fries versteht die Geschichte von den Söhnen des Widerlings Fjodor Karamasow - der von seinem unehelichen Spross Smerdjakow erschlagen wird, wofür aber sein ältester Sohn Dimitri angeklagt wird - mehr oder weniger als Kriminalfall mit psychoanalytischer Deutungsmöglichkeit. Wie konnte es dazu kommen? Es gibt den Mord und den Mörder - aber auch viele, die den Mord herbeigesehnt oder durch ihr Vorgehen zumindest ermöglicht haben.

Familienaufstellung im Programmheft

Wer hier liebt, tut dies leidenschaftlich, wenn auch »nur für ein Stündchen« oder ohne Aussicht auf echte Gegenliebe. Affären, zerrüttete Familienverhältnisse, der Mord und ein Diebstahl, vier Brüder mit konträren religiösen, philosophischen oder politischen Ansichten - da ist es gut, dass im Programmheft zumindest eine Art »Familienaufstellung« hilft, die Übersicht im Personengeflecht zu behalten.

Wie im Roman wird auch in der Bühnenfassung von Fries nicht chronologisch erzählt. Die vier Schauspieler wechseln zudem blitzschnell zwischen den einzelnen Rollen. Manchmal reicht dafür nur eine veränderte Tonlage aus. Live-Kameraeinspielungen und die für Fries’sche Inszenierungen so typischen Geräuschkulissen - vom spitzen Schrei eines Chores bis zum mehrstimmigen russischen Gesumme - gibt es auf einer weiteren Ebene. Kurze Probensequenzen, in denen etwa Johanna Malecki das Mordopfer als grölenden Fiesling vorführt, fügen ein weiteres Stilmittel hinzu. Da heißt es, nicht den roten Faden zu verlieren und das Puzzle Stück für Stück zusammenzusetzen.

Dass das über die volle Spieldauer gelingt, ist zum Großteil den vier Schauspielern zu verdanken. Johanna Malecki changiert gekonnt zwischen der mondänen und skrupellosen Gruschenka, die als verlorene Seele nicht nur Vater Fjodor, sondern auch Sohn Dmitri um den Finger wickelt, und der stolzen Dmitri-Verlobten Katerina.

David Moorbach als aufrichtiger, aber seinen Leidenschaften ausgelieferter Lebemann gelingt es, glaubhaft zu machen, warum sich Dmitri für den Mörder seines Vaters hält und sich kopfüber in Abgründe stürzt. Magnus Pflüger verkörpert den atheistisch-intellektuellen Iwan überzeugend, der als geistiger Brandstifter Mitschuld am Vatermord auf sich geladen hat und darüber den Verstand verliert.

Wie von Dostojewski im Roman-Vorwort angedeutet, wird auch in der Bühnenversion das von allen gemochte Nesthäkchen Aljoscha, ein selbstlos opferbereiter Novize, zur wichtigsten Figur. Dass nicht nur er, sondern auch der tatsächliche Totschläger Smerdjakow von Maximilian Schmidt gespielt werden, kann wohl als Anspielung darauf verstanden werden, dass in jedem Menschen auch eine dunkle Seite schlummert. Die menschlichen Abgründe - in »Die Brüder Karamasow« sind sie Thema, nicht nur in ihren kurzen Debatten über Gott und die Welt.


Karola Schepp, 29.01.2022, Gießener Allgemeine Zeitung