Liebe, Tod und gutes Essen - Gießener Anzeiger
20.05.2019

Gedichte von Nobelpreisträger Pablo Neruda in ungewöhnlicher Lesung auf taT-studiobühne

Eine „Lesung“ der etwas anderen Art erlebten die Besucher am Samstagabend auf der taT-Studiobühne. Dort rezitierten der Schauspieler Rainer Hustedt, ehemaliges Ensemblemitglied des Stadttheaters, sowie der in Chile geborene Musiker Glenn Pedro Buchholtz eine Auswahl der schönsten und skurrilsten Gedichte des chilenischen Nobelpreisträgers Pablo Neruda (1904 – 1973) in einer theatralen Aufführung.

Unter dem Motto „Oda a la Vida“ präsentierte das Duo den zahlreichen Zuschauern die Texte im chilenisch-spanischen Original sowie in deutscher Übersetzung mit viel Energie und Leidenschaft. Und sie überzeugten dabei mit eigenen Musikkompositionen an Alt- und Tenor-Saxophon, Gitarre, Bass oder dem Kazoo. Diese Einlagen wurden von den beiden genutzt, um den Gedichten intensiv Ausdruck zu verleihen. Beispiel gefällig? Buchholtz imitierte mit dem Kazoo das Geräusch einer Fliege, die Hustedt auf der Bühne zu fangen versuchte. Weiter ging es mit Kazoo und Gitarre, ehe die Melodie abrupt endete. Es folgte ein Gedicht mit dem Namen „Das Insekt“ – bei dem sich der Schauspieler eine Schlafmaske aufsetzte und wie blind auf den Knien Richtung Publikum kroch.

Mit solchen Einlagen erhielten die Werke eine gewisse Dynamik und wurden den Zuschauern bildhaft nähergebracht. Doch das gut eingespielte Team wandte sich auf der Theaterbühne auch den ernsten Themen zu, die Nerudas Verse ebenfalls beinhalten – auch wenn diese oftmals eher zwischen den Zeilen stehen. Das Leben des Dichters war geprägt von der Suche nach Liebe und Gerechtigkeit, aber auch einfachen Dingen wie gutem Essen und Wein – für ihn keine Gegensätze. In seinen poetischen Texten schaffte er es, die einfachen Bedürfnisse eines Menschen, aber auch große Themen wie Tod, Kampf und Widerstand gegen totalitäre Systeme zum Ausdruck zu bringen.

Diesen Widerspruch verdeutlichte das Duo bei der Vorstellung der Gedichte „Der Tiger“ und „Der Kondor“. In diesen Werken besticht der 1973 unter ungeklärten Umständen gestorbene Regimegegner Neruda mit bildgewaltigen Worten, die allerdings einen martialischen Ton aufweisen und auch einen Todesakt beschreiben. Trotzdem spiegelt sich in den Zeilen auch Hoffnung und Sehnsucht nach Liebe wider. Um die Zerrissenheit in Nerudas Werk darzustellen, stieg Hustedt auf einen Stuhl, breitete die Arme wie Kondor-flügel aus, und rezitierte die Zeilen, die er nach einem wilden Saxophon- und Gitarrenspiel mit einem überraschenden Wutausbruch beendete.

Auch hier zeigte sich, dass mit einfachen Ideen auch schwer zugängliche Texte greifbar gemacht werden können. Dieser Einfallsreichtum sollte sich bezahlt machen, so honorierten die Zuschauer im nahezu vollbesetzten Saal die Performance mit langem, warmem Applaus. Als Zugabe bot das Duo weitere Gedichte. In der „Ode an die Tomate“ wird die Frucht von Neruda als eine Art „Stern der Erde“ und als „frische Sonne“ bezeichnet – also mit starken Worten beschrieben, nur, um sie am Ende mit einem Messer zu „töten“ und in das „lebendige Fruchtfleisch“ zu stechen. Mit Brettchen, Messer, Salz und Pfeffer „bewaffnet“, versinnbildlichte Hustedt die Verse des 1971 mit dem Nobelpreis geehrten Dichters. Durch die besondere Verbindung der spanischen und deutschen Texte mit Melodie und Theatralik entstand eine kurzweilige, witzige und dynamische theatrale Interpretation der Gedichte Nerudas.


Felix Müller, 20.05.2019, Gießener Anzeiger