»Metamorphosen« als wunderbares Wimmelbild - Gießener Allgemeine Zeitung
23.05.2022

Zum Abschluss der Intendanz lassen es die kreativen Köpfe am Stadttheater richtig krachen. Frei nach Ovids »Metamorphosen« bieten sie einen Theaterabend wie ein Wimmelbild.

Spartenübergreifend heißt am Theater oft, dass ein Tänzer mal einen Satz sagt, ein Schauspieler ein paar Schritte tanzt oder ein Musiker eine kleine Sprechrolle übernimmt. Nicht so bei den bis in letzter Konsequenz spartenübergreifend entwickelten und umgesetzten »Metamorphosen«, die frei nach Ovid, am Samstag zum Abschluss der Spielzeit im Großen Haus Premiere hatten. Tom Peuckert hat basierend auf dem Epos voller antiker Mythenfiguren und Weltbetrachtungen kurze Dramolette geschrieben, die in der Inszenierung von Patrick Schimanski miteinander verwoben zum Sinnbild des von Ovid thematisierten stetigen Wandels werden.

Komplett analog und vielschichtig

Und so wie Ovids Text im Grunde das Werk vieler Autoren ist, ist auch dieser Abend das Werk einer kreativen Gemeinschaft, die sich mit Wehmut, aber auch Hoffnung vom Gießener Theaterpublikum verabschiedet und zugleich deutlich macht, dass das »Märchenerzählen keine Jedermannsbegabung« ist, sondern wahre Kunst.

Mitglieder aller Sparten des Hauses haben in Workshops gemeinsam erarbeitet, was sich auf der Bühne zur Symbiose von Tanz, Schauspiel, Gesang und Musik mit fließenden Übergängen fügt und zugleich das Theater, die Menschen, die es machen, und ihre Künste und Arbeitsweisen feiert. Wie in einem Wimmelbuch kann man auf Entdeckungsreise nach immer neuen Details gehen.

Und das komplett analog: Jedes Geräusch entsteht live - und zwar nicht nur im von Florian Ludwig dirigierten Orchester, dessen Musiker immer wieder auch für Soli die Bühne betreten und wo im Orchestergraben schon mal Tischtennisbälle aufploppen. Es gibt keine Videoeinspielungen, auch wenn vieles gleichzeitig passiert. Alles ist echt, sogar die Pflanzen, die im von Lukas Noll entworfenen Garten voller kriechender Echsen, posaunender Frösche oder miauenden Katzen (Kostüme: Heiko Mönnich) aus dem Bühnenuntergrund emporkommen. Und alles ist im Fluss. Schließlich zieht sich das Thema der Verwandlung, also Metamorphose, durch den Abend, in dem Carolin Weber und Tomi Wendt als die antiken Gottheiten Dionysus und Apollo das seltsame Treiben der Menschen auf Erden beobachten und spöttisch-nachsichtig kommentieren. Ein Erzähler (Roman Kurtz) begleitet die Zuschauer in einer Art Faradayscher Käfig über allem schwebend. Anne-Elise Minetti als schwärmende, am Ende ernüchterte Ehefrau des Dichters - quasi ein Alternativ-Ovid - bietet mit des Poeten Gehirn in der Hand eine weitere inhaltliche Fährte. Überhaupt ist das Gehirn, das zu Beginn noch einsam auf dem Boden liegt, zentral - als Organ des Bewusstseins und der Fantasie. Oder ist es am Ende doch nur eine riesige Walnuss?

Das Leben ist Verwandlung - und zwar in all seinen Facetten. Auch die Ehe kann von schwärmerischer Verliebtheit zur zerrütteten Zweckgemeinschaft werden, wie David Moorbach und Johanna Malecki in ihrer Therapiestunde zeigen. Selbst Schönheit vergeht, wie Lukas T. Goldbach im OP-Saal am selbstverliebten Narziss (Stephan Hirschpointner) deutlich macht. Und natürlich bleibt im Leben der Menschen - von der frühlingshaften Jugend bis zum beschwerlichen Winter - was Philemon (Magnus Pflüger) und Baucis (Paula Schrötter) im Angesicht ihres nahenden Todes Revue passieren lassen, nichts so wie es war. So mancher von den Göttern argwöhnisch beobachtete Mensch erliegt zudem der Hybris und Sucht nach grenzenloser Freiheit und Unsterblichkeit, wie etwa der vielgestaltige Elon Musk, der als moderner Phaeton Großes wagt und dabei die Welt in Brand setzen könnte.

»Wikimorphosen« als Hilfestellung

Styx mit dem Horn, Midas mit Gold an seinen Händen, Ikarus mit Flügeln, die wunderschön singende Calisto (Naroa Intxausti) mit ihrem wallenden Raupenkörper - im Programmheft helfen »Wikimorphosen« bei all den antiken Mythenfiguren den Überblick zu behalten. Doch wirklich nötig ist das nicht. Man kann - und sollte - sich einfach auf das sinnliche Vergnügen einlassen: Musik von Messiaen, Strauss, Brahms, Rachmaninov oder Lidholm lauschen, den Tanz der Schwäne genießen (Choreographie: Tarek Assam), via Spiegelung Maske- und Malersaal-Kollegen bei der Arbeit zuschauen oder Cupido beobachten, wie er keck nach Zielen für seine Liebespfeile Ausschau hält. Und immer wieder dem faszinierenden Gesang des Chores (Einstudierung: Jan Hoffmann) lauschen, bis sich am Ende das zuerst von tanzenden Schatten bestimmte Reich mit einem veritablen Sonnenaufgang in einen Hoffnungsschimmer verwandelt.


Karola Schepp, 25.05.2022, Gießener Allgemeine Zeitung