Mit Schwein, Witz und Herz - Gießener Anzeiger
30.11.2021

Carolin Weber bringt Geschichte von Elke Heidenreich als Solo auf taT-Studiobühne

Elke Heidenreich ist dem hiesigen Publikum noch besser bekannt als den meisten TV-Zuschauern. Denn Schriftstellerin und Kritikerin war bereits zu Besuch in Gießen, und ihre Erzählung »Alte
Liebe« mit Schauspielerin Carolin Weber war ein Dauerbrenner am Stadttheater. Jetzt stellte das Ensemblemitglied eine neue Geschichte aus der Feder der Kölnerin vor: »Erika – oder der verborgene Sinn des Lebens«. Sie handelt von einem Plüschschwein, das an Heiligabend das halbe Land emotional aus dem Tritt bringt. Weber präsentiert die Vorlage als szenische Lesung, die Premiere am Sonntagabend wurde zum Volltreffer.

Nachrichten aus dem Dampfradio

Die Schauspielerin hat zusammen mit Ausstatterin Denise Schneider den Text für die Bühne eingerichtet und dabei eine gemütliche Situation geschaffen, mit Dampfradio, Lesesessel, elektrischer Eisenbahn und allerlei hübschem Krimskrams auf dem Tisch. Das Radio spielt eine wichtige Rolle, denn daraus erklingen Hintergrundmusik und diverse Ansagen, mit denen das Stück ab und zu unterbrochen wird, als liefe gerade ein Radioprogramm. Eine dramaturgisch geschickte Idee, die die Atmosphäre verdichtet.

Protagonistin Betty erzählt eine aparte Weihnachtsgeschichte. Eigentlich ist sie todmüde vom Stress und streckt sich längs auf dem Teppich aus. Doch da ruft ihr Ex an: Ob sie nicht Weihnachten bei ihm verbringen möchte? Trotz Tonnen von Gründen, abzulehnen, sagt Betty zu. Zuvor will sie im KaDeWe noch etwas Spezielles für ihn kaufen und stolpert dabei über ein wunderbares Stofftier: ein Schwein mit blauen Glasaugen. Das muss sie haben, und sie spürt, dass es Erika heißen muss, nein heißt. Wie diese innige Beziehung zwischen Frau und Stofftier zustande kommt, ist in dieser amüsanten kleinen Geschichte zu erfahren, nachdem Carolin Weber die Szenerie ebenso detailliert wie voller Witz skizziert hat. Permanent perlen dabei die Pointen, abgelöst von ernsteren Aspekten, und man nimmt an Elke Heidenreichs Gedanken übers Leben und die Menschen teil, während gleichzeitig Schweinchen Erika auf Bettys Reise alle möglichen Leute zum Lächeln bringt: märchenhaft.

In der wunderhübschen, lupenartig konzentrierten Dekoration liest Carolin Weber mit verschmitzter Ironie. Schon im KaDeWe gucken alle Leute nach dem Schwein, viele wollen es streicheln. Und wie es so ungeheuer lieb dreinblickt, strahlt es gleichsam seine gute Laune in die Welt hinaus. Weber haucht der Geschichte Leben ein, deren Hauptfigur das Stofftier ruckzuck als Person oder zumindest als Haustier adoptiert und entsprechend beschreibt. Heidenreichs Art des ironischen Erzählens lässt Fiktion und Realität elegant ineinanderfließen. Carolin Weber spricht das quasi szenisch, allerdings arbeitet sie nur mit der Stimme; ab und zu wechselt sie zu einem andern Spielort oder steht direkt vor dem Publikum. Die hochkonzentrierten, mucksmäuschenstillen Besucher im voll besetzten taT sind alsbald in die Geschichte eingetaucht und wollen am liebsten auch gar nicht mehr heraus.

Inszenierung sorgt für doppeltes Glück

Dank Webers souveränem Vortrag ist hier ein doppeltes Glück zu erleben: Es gibt eine erstklassige Lesung in atmosphärischer Kulisse. Und es gibt eine geistreiche, fantasievolle und facettenreiche Story, die von der Schauspielerin mit spielerischer Pointensicherheit auf die Bühne gebracht wird.


Heiner Schultz, 30.11.2021, Gießener Anzeiger