Ohne viktorianisches Pathos geht es nicht - Gießener Anzeiger
20.09.2021

Bei der Eröffnung der Konzertsaison im Stadttheater Gießen brillierte Florin Illiescu als Solist in Wieniawskis komplexen Violinkonzert.

Mit einem glänzenden Auftritt, der die vielfältigen Möglichkeiten eines großen Klangkörpers in 80 Minuten ausgefeilt, souverän und stets klangschön unter Beweis stellte, hat das Sinfonieorchester des Hessischen Rundfunks unter der Leitung von Joseph Bastian am Samstagabend die Konzertsaison im Gießener Stadttheater eröffnet. Neben den immer wieder gern gehörten Enigma-Variationen von Edward Elgar (1857 - 1934) stand das eher unbekannte Violinkonzert Nr. 1 des polnischen Virtuosen Henryk Wieniawski (1835 - 1880) auf dem Programm, das der aus Rumänen stammende Solist Florin Illiescu in bravourösem Spiel geradezu traumwandlerisch und federleicht zum Leben erweckte. Das Publikum dankte mit herzlichem Applaus.

Henryk Wieniawski verkörperte zu seiner Zeit genau das, was man einen Teufelsgeiger nennt. Heute würde man sagen, dass er ein Leben auf der Überholspur führte. Der in aller Welt gefeierte Virtuose war für seinen exzessiven Lebensstil berühmt-berüchtigt und am Spieltisch nicht minder oft anzutreffen als auf den Konzertbühnen. Natürlich liegt es auf der Hand, dass er als Komponist ausschließlich für sein eigenes Instrument, die Geige, schrieb. Thematische und motivische Aspekte rückten dabei allerdings in den Hintergrund. Sein glanzvolles, romantisch durchglühtes Violinkonzert Nr. 1 mit halsbrecherischen Wendungen und schwelgerischen Tönen komponierte er bereits als 17-Jähriger, und der Grund, warum es nach seinem frühen Tod so lange in Vergessenheit geraten war, hat mit den immensen spieltechnischen Anforderungen zu tun, die in ihm stecken: Die schwierigen Doppelgriffe und die bis in die fünfgestrichene Oktave kletternden Spitzentöne waren den meisten ihm nachfolgenden Kollegen schlichtweg unerreichbar.

Florin Illiescu zeigte nun auf erfrischend zupackende Art, dass der vertrackte Solopart doch zu bezwingen ist. Äußerlich zurückhaltend, bescheiden und alles andere als ein polternder Salonlöwe brachte er die an Tücken reiche Partie mit Prägnanz, spielerischer Raffinesse und Einfühlungsvermögen mustergültig zum Blühen. Begleitet von dem mal samtweichen Streicherklang, mal mächtig tönenden Blech des Orchesters ließ er in seiner frappierenden Darbietung allenthalben schillernden Farbenreichtum und verschwenderische Virtuosität aufblitzen. Im schlichten langsamen Satz mit der Überschrift "Preghiera" (Gebet) spielte er im Ton Mendelssohn'scher Innigkeit, und im folkloristisch geprägten Rondo ließ er den Bogen über die Saiten nur so tanzen.

Weiter ging es mit den Enigma-Variationen, die beim Publikum seit ihrem ersten Erklingen 1899 wohl auch deshalb so beliebt sind, weil sie den Hörern zwei Rätsel aufgeben: In den 13 Variationen und dem Finale charakterisiert der Komponist einige seiner Freunde, von denen nur die Initialen genannt sind - es blieb also für die Öffentlichkeit zunächst ein Rätsel, um wen es sich handelte. Elgar sprach aber auch über eine sehr bekannte Melodie, die er in seiner Komposition versteckt und die niemand entdeckt habe. Das ist bis heute so geblieben.

Die Suche nach Elgars angeblich verstecktem Thema ist heute jedoch kaum noch relevant. Entscheidend ist aber, dass das Werk überaus wirkungsvoll, geistreich, hervorragend instrumentiert und ausgesprochen farbenreich daherkommt. Joseph Bastian, der das hr-Sinfonieorchester umsichtig, geschmeidig und voller Elan dirigierte, setzte bei seiner detailfreudigen Interpretation auf eine fast kammermusikalische Transparenz, in der die jeweiligen Instrumentenstimmen klar hervortraten. So sehr sich die Gäste aus Frankfurt womöglich um eine betont moderne, sachliche Auslegung bemühten, so wenig wollten sie aber auch auf eine gewisse Prise des viktorianischen Pathos verzichten, ohne welches das liebenswürdige Werk nun mal nicht auskommt. Denn dieses Pathos zu überspielen, hieße, das Werk zu verfälschen.

So machten sich die Musiker genießerisch über die gefühlsgetränkte Nimrod-Variation her, in der der Komponist seinem deutschen Verleger August Jaeger mit flüchtigen Hinweisen auf Beethovens Pathetique ein Denkmal setzte. Und im schmetternden, triumphalen Finale, in dem Elgar in aller englischen Unbescheidenheit sich selbst charakterisierte, klang es tatsächlich noch einmal very british. Da hörte man den Schöpfer der berühmten "Pomp and Circumstance"-Märsche.


Thomas Schmitz-Albohn, 20.09.2021, Gießener Anzeiger