Opernrarität im Setzkasten der Gefühle - Gießener Allgemeine Zeitung
20.12.2021

Die Uraufführung wird ein Reinfall. Die neue Inszenierung nicht. Das Stadttheater zeigt Bellinis orientalisch anmutende Oper »Zaira« in einer Orchestrierung von Herbert Gietzen.

Sicher wäre es gut gewesen, wenn sie vorher miteinander gesprochen hätten. So aber bringt der Sultan seine Geliebte einfach um. Auf der Opernbühne reden sie selten miteinander, lieber übereinander. Das hat Tradition. Wie die geringe Halbwertszeit. Die meisten Werke verschwinden in der Versenkung. Ansonsten existierten nicht 100 Stücke, die stets gespielt werden, sondern 10 000.

Meist ist nichts dagegen einzuwenden, wenn Raritäten verschollen bleiben. Hin und wieder gibt es eine Ausnahme. Wie am Samstag im Stadttheater. Bei der Premiere der »Zaira« aus der Feder von Vincenzo Bellini staunten die Zuschauer. Was auch an der Optik lag. Ausstatter Lukas Noll schöpft bei Bühne und Kostümen aus dem Vollen und zeigt einen stilisierten Orientalismus.

Eigentlich sollte »Zaira« bereits in der vergangenen Saison aufgeführt werden, doch Corona machte einen Strich durch die Rechnung. Nun wirkt Nolls auf Abstand getrimmtes farbenfrohes Tausendundeine-Nacht-Ambiente wegen seiner vielen Räume und zweier Spielebenen zwar etwas setzkastig. Doch der Dreidimensionalität erzeugende Prospekt im Hintergrund schafft surreale Tiefe.

Regisseur Dominik Wilgenbus, der in Gießen bereits »Die weiße Dame« (2016) und den »Barbier von Sevilla« (2019) verantwortete, erzählt die tragische Lovestory mithilfe des Bildertheaters. Die Charaktere nehmen sich zurück. Genau genommen stehen sie nur rum, singen an der Rampe oder vom Balkon. Was nach Langeweile klingt, erhält dank ausgefeilter Licht- und Videotechnik Kraft.

Voltaire taucht bei Wilgenbus als Puppe auf und ergänzt als Erzähler mit ethisch-moralischen Elementen seine eigene literarische Vorlage. Er bremst ein wenig die Handlung aus.

Ausgebremst wurde »Zaira« auch bei ihrer Uraufführung 1829. Sie war ein Misserfolg. Bellini, Spross einer italienischen Musikerfamilie, hat sein Stück danach weidlich ausgenommen und Teile für die »Norma« und zwei weitere Opern verwendet.

Leisestärke als Vorzug

Bellinis Kunst ist die Leichtigkeit der Melodie. Belcanto kann er. Das Lyrische. Dann wird es schnell holzschnittartig. Ein Ohrwurm ist ihm in der »Zaira« nicht geglückt. Wobei die Oper in ihrem innovativen Kammerorchester-Format Potenzial aufweist. Herbert Gietzen, ehemaliger Generalmusikdirektor des Stadttheaters, hat das Werk am Rechner neu orchestriert und die Partitur auf pandemiegerechte 15 Musiker verschlankt.

Die Blechbläser werden von ihm bis aufs Horn eliminiert, das Harmonium mutiert zum Posaunenschreck. »Das klingt richtig gut«, wie Jan Hoffmann, seines Zeichens stellvertretender Generalmusikdirektor des Hauses und Dirigent des Werks, im Vorfeld verspricht.

Der Reiz dieser musikalischen Feinkost, die vom Philharmonischen Orchester Gießen motiviert dargeboten wird, liegt in der Transparenz. Und in der Lautstärke, die diesmal eine Leisestärke ist. Sie ermöglicht es den Solisten, aufzutrumpfen.

Das kommt Sopranistin Naroa Intxausti zupass. Sie singt die umfangreiche Titelpartie mit feinen Koloraturen und metallischen Spitzen. Ihren geliebten Sultan legt Bassbariton Marcell Bakonyi als hadernden Helden, aber kernigen Sänger an, der prächtig vom Leder zieht, wie weiland sein Kaspar in Webers »Freischütz«.

Zu einer Favoritin des Abends mausert sich Na’ama Goldman (Ritter Nerestano). Die Mezzosopranistin gibt in der Hosenrolle ein famoses Debüt am Stadttheater. In weiteren Partien sind Tenor Leonardo Ferrando als Wesir Corasmino sowie Sofia Pavone, Josua Bernbeck, Kornel Maciejowski und Kouta Räsänen zu erleben. Der Chor des Stadttheaters darf nicht fehlen. Die Herren verkörpern die christlichen Ritter, die komplette Sängerschar den Hofstaat des Sultans. Das Publikum im Großen Haus spendet am Schluss langen Beifall für eine gut getimte Oper im neuen Klangmantel.


Manfred Merz, 20.12.2021, Gießener Allgemeine Zeitung