Philippe Stiers Posaune wird zum »heißen Ofen« - Gießener Allgemeine Zeitung
03.01.2022

Mit Schwung in das neue Jahr - beim Neujahrskonzert im Stadttheater bekam diese Plattitüde inhaltliche Substanz. Denn alles drehte sich um die unterschiedlichen Arten der Fortbewegung.

Posaunist Philippe Stier kennt man auf YouTube, wie er samt Instrument auf einem Motorroller satt röhrend durch die Schanzenstraße braust. Da liegt es nahe, dass der Solo-Posaunist des Stadttheaters beim Neujahrskonzert, in dem es um allerlei Arten der Fortbewegung ging, von Generalmusikdirektor Florian Ludwig mit dem »Motorbike Concerto« von Jan Sandström beauftragt wurde. Was der junge Musiker daraus machte, war eine Sensation. Stier verwandelte seine Posaune in einen »heißen Ofen«, nahm seine Zuhörer mit auf eine akustische Reise rund um den Globus. Er sprang über Ozeane und Kontinente, brauste begleitet vom Krokodil-Chor durch die Everglades, lieferte sich in den Bergen der Provence und zum Klang einer Prozession ein hochtouriges Motorradrennen, verwandelte im Land der Aborigines die Posaune in ein Didgeridoo und fand am Ende - wie im Biker-Alltag leider allzu häufig - ein tragisches Ende. Höchste technische Ansprüche, mehrstimmiges Spiel, hineingewebte Gesangselemente, Urschreie, mit Flatterzunge und Plunger-Dämpfer nachgeahmter Motorradsound - das war beeindruckend virtuos.

Motorradlärm, auch wenn er »nur« aus der Posaune kommt, mag nicht jedermanns Sache sein. Aber das Programm, das Generalmusikdirektor Florian Ludwig und die Musiker des Philharmonischen Orchesters dem Publikum zum Jahresstart kredenzten, lieferte auch Gefälliges für empfindliche Ohren - und verlor dabei die Fortbewegungsarten in einer Zeit eingeschränkter Bewegungsfreiheit nicht aus dem Blick. Mit Elmer Bernsteins Filmmusik zu »Die glorreichen Sieben« startete das Orchester quasi hoch zu Ross, um dann mit Frederick Delius’ »The Walk to Paradise Garden« aus der Oper »A Village Romeo and Juliet« die Schönheit eines romantischen Spaziergangs zu genießen - auch wenn der die unglücklich Liebenden nur zur »Paradise Garden« genannten Dorfkneipe führt.

Hoch zu Ross und auf einem Floß

Der »København Jernbane Damp Galop« (Kopenhagener Eisenbahndampfgalopp) von Hans Christian Lumbye ahmte täuschend echt das Stampfen und Rattern einer Dampflok nach und führte nicht nur zum Hauptbahnhof Gießen, sondern auch »Lokführer« Florian Ludwig zum Seitenhieb auf die Unzuverlässigkeit der Deutschen Bahn. Dass da auf kurzen Strecken das Fahrrad eine gute Alternative bietet, weiß auch der finnische Entertainer und Sänger Mauri Antero Numminen, dessen Radler-Ode »Fahrradfahren ist notwendig« Bariton Tomi Wendt kurz und knapp zum Besten gab - radelnd auf einem knallroten Rad. Und im Schnee tut es auch schon mal eine Kutsche, wie Leroy Andersons »Sleigh ride« mit bei zehn Grad Außentemperatur etwas merkwürdig anmutendem Glöckchengebimmel und Peitschenknallen zeigte.

Florian Ludwig, der mit erkennbarem Spaß nicht nur das Philharminische Orchester dirigierte, sondern auch mit launigen Überleitungen moderierte, gab zu bedenken, dass Bewegung in der Musik nur selten im eigentlichen Sinne thematisiert werde. Doch natürlich habe sich Walzerkönig Johann Strauß dazu etwas ausgedacht und seinen »Accelerationen-Walzer« op.234 komponiert. Das Orchester spielte den im immer schneller werdenden Dreiviertel-Takt und setzte dabei gefühlt Zentrifugalkräfe frei.

Zu den eher seltsamen Forbewegungsarten gehört wohl eine Floßfahrt mit Pferd. Die habe Richard Wagner mit »Siegfrieds Rheinfahrt« aus der »Götterdämmerung« in »so schöne Musik gegossen«, scherzte GMD Ludwig, dass man getrost die Unlogik der Situation außer Acht lassen könne. Auch John Williams »Adventures on Earth« aus der Filmmusik zu »E.T.«, bei der jugendliche BMX-Fahrer auf Außerirdische treffen, gehörte wohl in diese Kategorie.

Mit dem Radetzky-Marsch und einer bayerisch-derblustigen Fahrt in der Trambahn, gespielt und gesungen von Tomi Wendt, Musikdramaturg Samuel Zinsli und GMD Ludwig als feine Dame mit Hut, endete das Neujahrskonzert, das das Publikum mit erquicklichem Schwung in das Jahr 2022 entließ - ein Jahr mit hoffentlich wieder mehr Bewegungsspielraum.


Karola Schepp, 03.01.2022, Gießener Allgemeine Zeitung