Russische Seele hautnah - Gießener Allgemeine Zeitung
03.02.2022

Im Stadttheater entführt das Sinfoniekonzert nach Russland. Neben der Melancholie der eisigen Weite gilt es, auch verfemte Komponisten wiederzuentdecken.

Russland als Thema. Wenn das nicht politisch wird. Eraldo Salmieri konnte die aktuelle Brisanz bei der Planung seines Gastdirigats im Stadttheater nicht erahnen, als er mit dem Philharmonischen Orchester musikalische Sehnsucht nach dem einstigen Zarenreich und seinen teils verfemten Komponisten verspürte. Im Großen Haus ging es am Dienstag beim Sinfoniekonzert auf einen nostalgischen Trip in die Klangwelt eines eisigen weiten Landes.

Und dann auch noch per Saxofon. Es hat, von einer Frau virtuos befeuert, auf der Konzertbühne Seltenheitswert. Die Kielerin Diane Hunger ist über jeden Zweifel erhaben. Das lässt sich auch über Alexander Glasunows (1865 - 1936) Konzert für Altsaxofon und Streichorchester sagen, das in jüngster Zeit hin und wieder aufgeführt wird.

Sopranistin als Spitzenkraft

Schon der erste Einsatz des Holzblasinstruments aus Messing wärmt die Seele, nicht nur die russische. Hunger intoniert weich, kitzelt das Rohrblatt und verströmt Esprit. Glasunow, in St. Petersburg einst Professor für Instrumentationslehre, lässt sein Anfangsthema während des kompletten Konzerts immer wieder durchscheinen. Hunger nimmt es jazzfrei und filigran auf, mal elegant ins Orchester integriert, mal mit scharfem Ton. Schnelle Läufe runden das Werk ab.

Das zweite Soloinstrument des Abends ist die Stimme von Gloria Rehm. Die bundesweit gefragte Koloratursopranistin wird zum Glanzlicht. Als Spezialistin für die höchsten Töne hat sie im Konzert für Koloratursopran und Orchester aus der Feder von Reinhold Glière (1875 - 1956) siebzehn Minuten Zeit, sich mit ihrem Gesang ohne Worte, nur mit artistischen Vokalsprüngen und Wendungen, als Spitzenkraft zu beweisen. Rehms hohes Register wirkt trotz der Schärfe sahnig-fein, ihre Aufschwünge verfügen über Präzision, ihr Timbre über vollendete Schönheit. Dafür gibt es vom Publikum den längsten Applaus des Abends.

Die Mozartiana-Suite von Peter Tschaikowsky (1840 - 1893) gilt als Hommage zum 100. Jahrestag von Mozarts »Don Giovanni«. Tschaikowsky kleidet vier Stücke des von ihm verehrten Kollegen liebevoll in ein eigenes, viersätziges Orchestergewand.

So klingen Frieden und Freiheit

Die Musiker trumpfen in der Suite unter ihrem beliebten Gastdirigenten Salmieri frei auf, lassen wenig Schwermut zu, konzentrieren sich lieber auf die Reinheit des Klangs. Das Gehörte wird zu einer interessanten Mischung aus Mozarts klassischer Wiener Welt und der schwelgerischen Romantik Russlands.

Konzertmeister Ivan Krastev gibt zwei feine Soli zum Besten, wobei ihm der geschmeidige Tschaikowsky besser von der Hand geht als der etwas sperrige Alexander Weprik (1899 - 1958). Der Pionier der Neuen Jüdischen Schule war während der 1920er Jahre in Russland durchaus eine Berühmtheit, ehe er unter Stalin mundtot gemacht wurde. Bis heute gilt es, ihn wiederzuentdecken.

Zum Beispiel mit seiner Pastorale. Ein Barockstück? Nun ja, eins, das ein klein wenig an Prokofjew und Rimski-Korsakow erinnert - oder eben an Weprik. Salmieri lässt den Streichern Raum, ist im Tempo verbindlich, aber im Duktus nicht zu ernst, was einen sensiblen Sound ermöglicht. Es klingt nach Frieden und Freiheit. Man sollte das Werk heute wohl öfter spielen.


Manfred Merz, 03.02.2022, Gießener Allgemeine Zeitung