Schwungvoll ins neue Jahr befördert - Gießener Anzeiger
10.01.2022

Philharmonisches Orchester Gießen spielt kurzweiliges Programm zum Thema »Bewegung«

Ob zu Pferd, mit der Eisenbahn oder gar auf fliegenden Fahrrädern: Beim diesjährigen Neujahrskonzert im Stadttheater transportierten die Gießener Philharmoniker unter der Leitung von Florian Ludwig das Publikum schwungvoll gen 2022 – und setzten dabei nicht bloß auf bewegte Musik, sondern gleich auf eine ganze Vielfalt von unterschiedlichen Fortbewegungsmitteln.

»Let’s Move« war das Konzert getauft worden, in dem am Freitagabend ein voller Saal in euphorischer Antizipation dem neuen Jahr entgegen sah. Für einen »Spaziergang durch die Musikgeschichte«, wie Florian Ludwig in seiner Moderation kommentierte, hatte man einige Werke aus den vergangenen zwei Jahrhunderten ausgesucht, die nicht nur eine Fülle von Stilen widerspiegelten, sondern auch vom fortbewegen selbst in unterschiedlichsten Arten und Weisen erzählten: War man mit Elmer Bernsteins ikonischer Filmmusik zu »Die glorreichen Sieben«, die glamourös den Abend eröffnet hatte, noch im Galopp zu Pferd unterwegs gewesen, so wechselte das Orchester im zweiten Stück, dem Intermezzo »The Walk to Paradise Garden« von Frederik Delius, zu einem ruhigen Spaziergang, in dem das Orchester sein Zusammenspiel und die dynamische Reichweite unter Beweis stellen konnte.

Durch die Tiefe der Bühne hatte das üppig besetzte Orchester gerade hier jedoch mit einigen Balanceschwierigkeiten zu kämpfen: Vor allem zaghaftere Soli im Holz schluckte der Bühnenkasten großzügig weg, was Ludwig in seiner sonst gekonnten Führung des Orchesters zu kompensieren versuchte. Klanglich hatte das Orchester dennoch einige besondere Momente zu bieten, etwa mit dem spaßigen »Kopenhagener Eisenbahndampfgalopp«, in dem sich neben einer munteren und energetischen Melodie auch das ganze Klanglexikon einer schnaufenden Dampflok inklusive rufendem Schaffner vernehmen ließ.

Bikertour um die Welt beeindruckt

Das abschließende Stück des ersten Teils, das Posaunenkonzert »Motorbike« von Jan Sandström, ließ schon aus den ersten Takten heraus den Eindruck von gewaltiger Klangvirtuosität erwachsen: Unterstützt durch einen projizierten Programmtext erzählte die zeitgenössische Komposition die Geschichte eines um die Welt fahrenden Bikers. Als Solist trat hier in wahrlich eindrucksvoller Performance der Posaunist Philippe Stier auf, von dem die komplexe Partitur einiges mehr abverlangte als das bloße Spielen seines Instruments: So erstreckte sich die halsbrecherische Aktivität des Solisten von gleichzeitigem Singen und Spielen bei einem Krokodilchor über die Imitation eines Didgeridoos bis hin zu wildem körperlichen Spiel in einem dramatischen Finale, das den Klang eines fahrenden Motorrads in vollem Umfang auskostete. Für diese beachtliche Leistung wurden Solist und Orchester vom Publikum mit großem Applaus beehrt.

Der zweite Teil, begonnen mit nostalgischem Winterrodeln in »Sleigh Ride« von Leroy Anderson, führte das Programm der ersten Hälfte imaginativ und originell fort: So radelte in einem kurzen, aber bemerkenswerten Auftritt der hauseigene Bariton Tomi Wendt auf einem Fahrrad herein, um eine Performance des swingigen Stückes »Fahrradfahren ist notwendig« von M. A. Numminen zum Besten zu geben.

Unter bunter Bühnenbeleuchtung folgte dann – nahezu als Neujahrskonzert-Notwendigkeit – mit dem Accelerationen-Walzer auch ein Beitrag von Johann Strauß, wo das Orchester den Tanz selbst als Fortbewegungsart zelebrieren durfte. Lobend erwähnt sei hier Konzertmeister Ivan Krastev, der die sonst eher etwas zu zahmen und seidigen Violinen zu beschwingten und großen Gesten bewegte.

Einer der Höhepunkte des Abends bildete dann jedoch »Siegfrieds Rheinfahrt«, ein instrumentaler Auszug aus Richard Wagners »Götterdämmerung«, bei dem die Musizierenden so leidenschaftlich von Heros und Idyll zu erzählen wussten, dass die umzeichnete Floßfahrt auf dem Rhein zum vollkommensten Klangerlebnis des Abends wurde. Ausladend und kraftvoll schloss das Konzertprogramm mit »Adventures on Earth«, dem musikalischen Finale des Films »E.T.«: Die offensichtliche Spielfreude und die zuweilen glänzenden Augen im Orchester ließen die Filmmusik von John Williams zu einem schlichtweg magischen Bravura-Abschluss erwachsen, der selbst über den Zeitraum von drei Zugaben noch hinweg zu hallen schien.


Simon Schepp, 03.01.2022, Gießener Anzeiger