Sehnsucht nach besseren Zeiten - Gießener Allgemeine Zeitung
07.04.2022

Beim Sinfoniekonzert im Stadttheater erklingt neben Johannes Brahms und Amy Beach erneut ein Werk aus der Ukraine. Trotz des allgegenwärtigen Krieges wird der Abend nicht schwermütig. Das ist auch dem jungen Pianisten Teppei Kuroda zu verdanken.

In Zeiten wie diesen sind Fernreisen nicht ohne. Von Japan über die USA in die Ukraine und von dort nach Deutschland - das hat im Krieg seine Tücken. Generalmusikdirektor Florian Ludwig überschreibt das Sinfoniekonzert vom Dienstag im Stadttheater gleichwohl mit dem Begriff »Interkontinental«, auch weil die Kompositionen sehr unterschiedlich sind. Toru Takemitsu steht mit Amy Beach, Valentin Silvestrov und Johannes Brahms dennoch in einer Phalanx für den Frieden. Dafür gab es am Dienstag im noch maskenbewährten Großen Haus reichlich Applaus vom Publikum und eine Geldspende an die Ukraine, zu der Ludwig aufrief. 2320 Euro kamen zusammen.

Um seinen Nonstop-Gedanken zu unterstreichen, stellt der Dirigent in beiden Konzertteilen das kleinere Werk vor das größere und verbindet beide attacca miteinander, also ohne Pause. Das sorgt beim Klavierkonzert der US-Amerikanerin Beach für leichte Verwirrung, da der junge Japaner Teppei Kuroda als Solist bereits beim Eröffnungstitel seines Landsmannes Takemitsu mit auf die Bühne kommt und am Flügel Platz nimmt, um einige Akkorde zu greifen. Danach erst beginnt übergangslos das eigentliche Klavierwerk, das prompt nach dem ersten von vier Sätzen Zwischenapplaus erhält, den Kuroda mit einem erstaunten Lächeln quittiert.

Komponistin Beach galt als Wunderkind, obschon sie es als Frau nicht leicht hatte, anerkannt zu werden. Ihre Werke veröffentlichte sie unter den Initialen des Ehemannes. Bei ihrem im Jahr 1900 uraufgeführten Klavierkonzert in cis-Moll zeigt der 24-jährige Kuroda am Dienstag veritables Können. Er hat die romantische Tonsprache von Beach verinnerlicht und ein Gespür für die Empathie der Sätze. Das Philharmonische Orchester Gießen gibt unter Ludwig ein moderates Tempo vor, das der Pianist spielfreudig aufnimmt. In den Soli strahlt er. Die dramatischen Sequenzen gehen unter die Haut - Beach erinnert im Auftaktsatz an Tschaikowskys erstes Klavierkonzert. Kuroda wird am Ende vom Publikum für seine Darbietung gefeiert und gewährt als Zugabe den virtuosen »Goldfisch« von Debussy.

Zum Auftakt des Konzerts ertönt das Sirrende »How slow the wind« des 1996 verstorbenen Takemitsu. Elf Minuten surreales Nervengeigen der subtilen Art. Nach der Pause steht die Sinfonie Nr. 4 e-Moll aus dem Jahr 1885 von Johannes Brahms wie ein Monument im Raum.

Die feine Kunst der Musikerführung

Der Romantiker eröffnet mit seiner Vorhang-Sequenz der absteigenden Terzen, lässt im Andante Phrygisches aufblitzen und im dritten Satz überraschend C-Dur erklingen, ehe er im Finale auf die barocke Form der Passacaglia zurückgreift, was dem Zuhörer 30 Variationen plus Coda beschert.

Dirigent Ludwig fasst den akustischen Rahmen des Orchesters eng, hält die Musiker dicht bei sich und lässt sie nur hier und da beim Forcieren scheinbar davoneilen, um sie kurz darauf präzise in seine Richtung zu lenken - die feine Kunst der Musikerführung in einem anspruchsvollen Werk.

Der letzten Sinfonie von Brahms schickt Ludwig das »Gebet für die Ukraine« des 84-jährigen Ukrainers Valentin Silvestrov voraus, in einer Orchestrierung seines Landsmannes Eduard Resatsch, der bereits im vergangenen Konzert zu hören war. Das sechsminütige »Gebet für die Ukraine« aus dem Jahr der russischen Krim-Annexion 2014 ist ebenso ernst wie tragisch. Alle sehnen sich nach besseren Zeiten.


Manfred Merz, 07.04.2022, Gießner Allgemeine Zeitung