»Sie spielen nicht mehr mit« - Gießener Anzeiger
02.11.2021

Multimedia-Liveperformance »Hamletmaschine« nach Heiner Müller auf der taT-studiobühne

Wie war das gleich nochmal? Sein Onkel Claudius ermordet Hamlets Vater, übernimmt die Königskrone und heiratet auch gleich noch die Witwe, Königin Gertrude. Hamlet schwört dem fiesen Onkel Rache, erweist sich jedoch als arg zögerlich, stellt sich die schicksalhafte Frage: »Sein oder Nichtsein?« und stürzt schließlich alle in den Abgrund. Der Rest ist Schweigen. So oder ähnlich haben wir alle den Shakespeare-Klassiker um den tragischen Dänenprinzen
kennengelernt. Den berühmten Stoff wird also noch im Kopf haben, wer nun eine Vorstellung der Gießener »Hamletmaschine« besucht. Viel helfen wird es allerdings nicht, um dieses vielstimmige, rätselhafte, sperrige Werk zu entschlüsseln. Am Sonntagabend feierte das Multimediastück mit drei Sprecherinnen, einem Soundmixer und Regisseur Patrick Schimanski als Live-Musiker Premiere auf der kleinen taT-studiobühne des Stadttheaters.

Die Vorlage der Inszenierung stammt von dem berühmten DDR-Dramatiker Heiner Müller (1929–1995) der seine Bearbeitung nach einer eigenen Übersetzung des Shakespeare-Stückes im Jahr 1977 verfasst hatte. Von der eigentlichen Handlung findet sich darin kaum mehr eine Spur, stattdessen handelt sich es um eine assoziative Textcollage, in der die eigene Position des Autors verhandelt und mit Hamlet-Motiven verwoben wird.

Zur Verfügung stehen Regisseur Schimanski dazu drei von allen individuellen Merkmalen befreite »Maschinistinnen«, wie es im Begleittext heißt. Carolin Weber, Paula Schrötter und Johanna Malecki, Mitglieder des Gießener Schauspielensembles, agieren als Sprecherinnen an drei Stehpulten, deren Sätze über Kopfhörer in die Ohren des Publikums transportiert werden. Ihre Stimmen sind aber nicht einfach nur zu hören, sondern werden in dieser Collage übereinandergelegt, miteinander verwoben und wandern dabei bisweilen auch vom linken Ohr ins rechte und wieder zurück.

Hinzu kommt Schimanski, der als Musiker an einem Laptop sitzt und eine Vielzahl von Klangmaterial beisteuert. Über den Computer ebenso wie über obskure Instrumente, von deren Existenz die meisten Besucher vermutlich bis dahin nicht einmal eine Ahnung hatten. Doch das ist noch nicht alles. Denn auf drei großen Leinwänden, die über den Schauspielerinnen angebracht sind, erscheinen neben illustrativen Bildern auch immer wieder deren computergenerierte Avatare, die ebenfalls rätselhafte Bekenntnisse zu dieser Inszenierung beisteuern.

Ein inhaltlich roter Faden ist indes kaum auszumachen. Das Geschehen wird andeutungsweise in die heutige Businesswelt verlegt. »Hamlet Inc.« ist als Firmenlogo auf der Leinwand zu lesen. Ein zur Karikatur verkommener Unternehmenslenker (Carolin Weber) sondert auf der Leinwand nichtssagende Sprechblasen ab. Und dann ist da noch Ophelia, die Gelíebte Hamlets, die hier mit ihrer Rolle hadert – in drei unterschiedlichen Tonlagen, weil die Darstellerinnen den Sätzen jeweils leicht veränderte Betonungen und emotionale Aggregatzustände verpassen. So lässt sich im Verlauf der knappen 60 Minuten Spielzeit motivisch vielleicht am ehesten das Hinterfragen der Sprecherrolle erkennen. Wer sagt hier was zu wem in welcher Rolle? Die ehrliche Antwort: keine Ahnung. »Ich spiele nicht mehr mit« , formulieren die drei Maschinistinnen schließlich überdeutlich als Hamlet, der sich seiner Rolle als tragischer Dänenprinz entledigt.

Antworten sind von dieser gängige Sehgewohnheiten brachial unterlaufenden »Hamletmaschine« also nicht zu erwarten. Geboten wird dafür eine überraschende, befremdende, bisweilen auch erheiternde und vor allem ästhetisch gewiefte Multimedia-Collage aus Text und Klang, die sich über die Kopfhörer tief in den Gehörgängen festsetzt. Wer den Mut hat, sich dieser Überforderung auszusetzen, wird in diese Maschinenwelt seinen Ohren nicht mehr trauen.


Björn Gauges, 02.11.2021, Gießener Anzeiger