Sieben gefiederte Abgründe - Gießener Allgemeine Zeitung
22.10.2021

Schräge Vögel bevölkern aktuell die taT-Studiobühne. Doch von trauter Volieren-Idylle ist das weit entfernt. In Caren Jeß’ »Bookpink« geht es um die Dinge im Leben, die wirklich wichtig sind, und die düsteren Züge der Welt und ihrer Bewohner.

Es lohne sich, die Vögel zu beobachten. Das habe schon ihre Großmutter gesagt. Mit diesen Worten entlässt die Erzählerin (Judith van der Werff) als Stimme aus dem Off das Publikum von »Bookpink« in die Nacht. Und tatsächlich: Die deutsche Erstaufführung des Stücks von Caren Jeß zeigt, dass Vögel wohl manchmal mehr von der Düsternis der Welt wissen, als uns Menschen bewusst ist.

Die 36-jährige Autorin führt in ihrem dramatischen Lehrbuch - das sich aus sieben komisch-poetischen Miniaturen zusammensetzt, in denen die meisten Figuren Vögel sind - Untiefen menschlichen Verhaltens vor. Jede Miniatur hat ihren eigenen Sound, ihre eigene Struktur. In ihrer Gesamtheit bilden sie ein Panorama der Gesellschaft.

Dreckspfau und tanzende Flamingos

Der von seiner Mutter im dunklen Wald ausgesetzte Pfau, der sich vergeblich um sozialen Aufstieg bemüht und vom frech-eitlen Spatz niedergemacht wird; die Flamingos, die nicht länger in einem Schaukasten im Kinderzimmer auf Kommando der Krähe tanzen wollen und ihre Flucht planen; die weiße Taube, die auf einem Campingplatz von barocker Pracht träumt und an der ernüchternden Realität verzweifelt - sie alle erlauben uns, auch dank ihrer gefiederten Fremdheit, den Kern der Dinge, die großen Themen des Lebens zu erkennen. Sie sind uns im Grunde ganz nah.

Das Stück, das eigentlich schon im Frühjahr dieses Jahres in Gießen erstaufgeführt werden sollte, ist tatsächlich Welttheater, in dem die Vögel ihre Rolle spielen und den Menschen in einem großen Wurf den Spiegel vorhalten. Es geht um Chancengleichheit, Geschlechtervielfalt, Einsamkeit, Eltern-Kind-Beziehungen, Religion und vieles mehr.

Regisseurin Nora Bussenius kostet in ihrer ersten Gießen-Arbeit die »fabelhafte« Zurschaustellung menschlicher Verhaltensweisen im Federkleid weidlich aus. Sie kann dabei auf einen Text zurückgreifen, der viele Freiheiten lässt. Kürzungen, Doppelbesetzungen, Reihenfolge, Textauswahl - Jeß lässt für die Bühne ungewöhnlich viel Spielraum.

Die von Christin Vahl als wandelbare, schräge Dachlandschaft konzipierte Kulisse und ihre mit wenigen, aber identitätstiftenden Details entworfenen Kostüme sind so fantasie- und humorvoll wie der gendergerechte Text, der nicht mit Schimpfwörtern spart, aber voller Poesie ist. Musik von Daniel Dorsch zwischen Diskomucke und pulsierenden Technikgeräuschen schafft für jede Miniatur zusätzlich eine neue Atmosphäre. So vergehen die mehr als 100 pausenlosen Minuten wie im Flug.

Großen Anteil daran haben die Schauspieler Roman Kurtz, Magnus Pflüger und Pascal Thomas, die als schräge Vögel und Mensch-Vogel-Hybride über die Bühne flattern, schreiten, gockeln. Pascal Thomas ist als hospitalisierter Bussard, der hinter Betonmauern zwar den »Kokon der Vernunft« bewacht, aber den einfliegenden Vögeln keine Antworten auf ihre Fragen nach Liebe, Halt und Sinn bieten kann, oder als von ihren Müttern im Stich gelassener Dreckspfau oder Krähenkind meist auf der Seite der tragischen Verlierer. Nur als narzisstische Pute, der der eifrige Hahn einen prachtvollen Stall einrichtet, scheint er oben auf - so lange, bis beide an Asbestose sterben. Roman Kurtz hat als elsternartiger Zeremonienmeister zunächst alles unter Kontrolle, um später als lächerlicher Flamingo mit pinkem Schwimmreifen und pinken Leggings oder als melancholische weiße Taube im zarten Tütü zu überraschen. Magnus Pflüger schießt in diesem gefiederten Kaleidoskop dabei - um im Bilde zu bleiben - den Vogel ab. Als goldener Laufsteg-Spatz, kopulationswillige Sumpfmeise oder im Flamingo-Ballett kostet er die komische Seite seiner Figuren voll aus. Ein großer Spaß für alle. Es lohnt sich wirklich, diese Vögel zu beobachten.


Karola Schepp, 22.10.2021, GIeßener Allgemeine Zeitung