Strindberg-Upcycling - Gießener Allgemeine Zeitung
12.03.2022

Upcycling liegt im Trend. Auch bei Theaterstücken. Und so wurde am Donnerstag in der taT-Studiobühne »Traumspiel:e« uraufgeführt - eine Überschreibung des Stationendramas »Ein Traumspiel« von August Strindberg. Autorin Sophie Reyer schickt diesmal keine Göttertochter, sondern ein Alien zu den verzweifelten Menschen.

Im von Dramaturg und Regisseur Patrick Schimanski sowie Bühnenbildner Lukas Noll gegründeten »Forum Nachhaltigkeit« am Stadttheater geht es um Fragen nach der Aufgabe von Kunst und Kultur in Zeiten des menschengemachten Klimawandels. Wie das praktisch umgesetzt werden kann, zeigt die jüngste Schauspielproduktion »Traumspiele:e«. Bühne und Kostüme bestehen erstmals komplett aus Materialen aus dem Fundus des Theaters. Auch die Beleuchtung arbeitet mit stromsparenden LED-Scheinwerfern. Und das Stück an sich erfährt ebenfalls ein Upcycling.

Die junge österreichische Autorin Sophie Reyer hat August Strindbergs »Ein Traumspiel« in die Jetztzeit transponiert und nennt ihre Überschreibung »Traumspiel:e«. Die Uraufführung am Donnerstagabend auf der taT-Studiobühne zeigte, dass Altbekanntes zwar mutig, aber durchaus sinnstiftend auf ein neues, zeitgenössisches Level gehoben wurde.

Strindbergs Stationendrama, 1902 fast parallel zu Freuds »Traumforschung« veröffentlicht, erzählt von der Tragödie der Menschheit, die so groß ist, dass Göttertochter Agnes auf die Erde herabkommt, um die Verzweiflung der Menschen voller Mitleid zu erkunden und das Welträtsel zu lösen. In Reyers eigens für das Stadttheater Gießen verfassten Überschreibung des schon bei seiner Uraufführung seiner Zeit weit vorauseilenden Originals kommt nun Agnes als Außerirdische zu den Menschen. Sie blickt als »Tochter aus der weißen Wolke« und des Vaters im »hohlen Mond« quasi von außen auf das »unzufriedene Geschlecht« und das, was es mit sich und dem Planeten angerichtet hat. Es geht um Genmanipulation, Ausbeutung der Ressourcen und Klimaschäden, die Kluft zwischen Armen und Reichen, den Zwang zur Selbstoptimierung - und ganz aktuell die Pandemie.

Produktion erstmals komplett nachhaltig

»Warum leben, wenn man stirbt?«, diese verzweifelte Frage steht über allen Begegnungen der etwas naiv wirkenden Außerirdischen. Agnes trifft den Soldat, der vergeblich auf seine Viktoria wartet, heiratet den Anwalt, der mit dem Bösen hadert, das ihm begegnet. Sie sieht die Ausgebeuteten, oder den Quarantänemeister, der am Strand Arme und Reiche voneinander trennt. Agnes hört ihnen zu, diskutiert mit ihnen über Dichtung und Wahrheit, Traum und Wirklichkeit. Doch die Ausweglosigkeit der menschlichen Existenz, die Strindberg noch suggestiv-poetisch thematisiert hatte, bekommt bei Reyer ganz handfeste, aktuelle Belege. Da schwimmen mehr FFP2-Masken als Quallen im Meer, ertrinken Flüchtlinge oder traut Frau sich nicht ins Bild, weil ihr Make-Up nicht sitzt. Die Sprache entspricht dabei dem heute Üblichen - inklusive Gendern und kraftvoller Schlagwort-Rhetorik.

Was bleibt, ist die traumhaft-unterbewusste Struktur des Dramas, in dem die Übergänge zwischen Szenen mal gleitend, mal abrupt sind - eben wie man es in einem schrillen Traum, mit all seiner Fallhöhe zwischen wohligem Gefühl und Albtraum, erlebt. Die Grenzen von Zeit und Raum verschwimmen. Alle vier Schauspieler -- Johanna Malecki, Paula Schrötter, Lukas T. Goldbach und Roman Kurtz - haben am Ende der gut eineinhalb Stunden dauernden Aufführung einmal fast jede Rolle übernommen. Auch das passt zum »Traumbild«-Gefühl.

Regisseur Patrick Schimanski hat für die leitmotivische Textzeile »Leben ist anstrengend« eigens einen Song komponiert, ergänzt den Bühnentraum mit Folksongs und Geräuschcollagen. Ein von Lukas Noll entworfenes Spiegelkabinett, das die Welt quasi auf den Kopf stellt, bildet die Kulisse. Den Bühnenhintergrund füllende Videosequenzen setzen das Traumhafte in schöne Bilder um. Kostümbildner Lukas Noll hat sich zudem im Fundus des Stadttheaters reichlich bedient: Tierköpfe, Irokesenperücke, zum Regenmantel umgenähte Theaterfahnen, prächtige Roben - alles gab es schon mal auf der Bühne oder im Theatergebäude zu sehen. Es wird, die scheinbar willkürlichen Sprünge im Traumerlebnis auf die Spitze treibend, nachhaltig wiederverwendet. Die Folge ist eine neue Ästhetik, die aber in Kombination mit der schlüssigen »Entstaubung« der Vorlage dem Drama keine Gewalt antut, sondern es wertschätzend upcycled.

Lediglich am Ende, als sich die im schnellen Wechsel gesprochenen Weisheiten über Logik und Philosophie überschlagen, verwandelt sich der Traum in plattitüdenlastige Irritation. Das Erwachen erfolgt so abrupt wie kurz zuvor Agnes’ Blitzehe mit dem Advokaten am Alltag scheiterte - eigentlich hätte da nur noch ein unangenehm schrillender Wecker gefehlt. Stattdessen gibt es wohlwollenden Applaus vom Premierenpublikum.


Karola Schepp, 12.03.2022, Gießener Allgemeine Zeitung