„The Rape of Lucretia“ in Gießen: Traumatherapie nach dem Krieg - Frankfurter Rundschau
13.09.2021

Eindrucksvolle Saisoneröffnung im Stadttheater Gießen mit Benjamin Brittens „The Rape of Lucretia“.

Krieg herrscht zwischen Römern und Griechen und zwischen den Geschlechtern. Benjamin Brittens 1946 uraufgeführte Kammeroper „The Rape of Lucretia“ beginnt in Gießen mit einer von Testosteron und Alkohol durchtränkten Heerlager-Szene, wo alle Frauen als Huren gelten. Später ist zu lesen, alle Männer seien Vergewaltiger und wir alle seien Lucretia. Am Ende aber domestiziert christliche Liebe die archaische Gewalt.

Das Bühnen-Personal ist reduziert auf vier Sängerinnen und vier Sänger – wobei zwei den antiken Chor vertreten. Das Orchester ist ein Ensemble von Solistinnen und Solisten. Christian von Götz‘ inszeniert das Nachkriegs-Werk plausibel und eindrucksvoll als therapeutisches Geschehen: Die Figur des Female Chorus (Anna Gabler) verhandelt mit dem Male Chorus (Bernhard Berchtold) ein Trauma, und Lucretia (Evelyn Krahe) muss sterben, damit die Figur des Female Chorus weiterleben kann. Für die Frage, warum Lucretia stirbt, obwohl auch nach ihrer Vergewaltigung niemand an ihrer Tugendhaftigkeit zweifelt, findet er die Lösung einer – bei Britten nicht vorgesehenen – Schwangerschaft und deren blutiges Ende durch die Vergewaltigung.

Lukas Nolls Bühnenbild besteht aus Variationen von Lucretias Schlafzimmer, mit schwarzer Jugendstil-Ornamentik an weißen Wänden. Nur selten wird die strenge Farbgestaltung durchbrochen. Es gibt kein Entkommen aus diesem Raum, der Ort der Vergewaltigung ist ein düsteres Überall. Auch das Heerlager befindet sich darin, ein kleines (grünes) Zelt markiert die Outdoor-Situation. Unter der Leitung von Florian Ludwig liefert die auf 14 Musiker:innen reduzierte Besetzung des Philharmonischen Orchesters Gießen eine eindrucksvolle Gestaltungsarbeit. Brittens Musik weiß immer mehr als die Figuren auf der Bühne, ist dramatisch hellwach und differenziert, begleitet, pointiert und deutet die Handlung mit klaren Impulsen und Bewegungsweisen, zitiert – zustimmend oder ironisch – Vorbilder und ist auf transparente Weise omnipräsent.

Der kleine Klangkörper im Graben bleibt mit dynamischem Feinsinn und präzisem Tempo der Handlung jeden Augenblick auf Tuchfühlung. Die Gesangspartien sind vorzüglich besetzt, das Ensemble spielt und singt auf überaus kompetentem und eindringlichem Niveau. Anna Gablers expressive Emotionalität und Bernhard Berchtolds klar kommentierender Tenor lenken Geschehen und Publikums-Aufmerksamkeit. Evelyn Krahe gibt ihrer wandlungsfähigen Altstimme melancholisch-warme, später fahle Farben von hysterischer Intensität.

Dass Britten den römischen Republik-Entstehungs-Mythos als Vorgeschichte des versöhnenden Christentums deuten will, macht die Inszenierung plausibel in der Figur des Vergewaltigers Tarquinius (Grga Peroš) mit hyper-virilem, expressivem Bariton. In einer eindrucksvoll statischen Szene blickt er als antike Verbindung aus Minotaurus und Medusa auf das Objekt seiner Begierde: Der Schreckensgott fordert sein Opfer. Das Opfer aber wird ihn besiegen. Irgendwann. Der Kampf geht weiter.

Hans-Jürgen Linke, 07.09.2021, Frankfurter Rundschau