Traumschiff im Weltall - Gießener Allgemeine Zeitung
30.05.2022

Es ist zurück: das Kleine, Feine, Leichte namens Bewegungskunst. Beim »Auftakt« des TanzArt- ostwest-Festivals rangieren Visionen im kühlen Kosmos eines Parkhauses. Acht Abenteurer gehen auf die Suche nach sich selbst.

Das Parkdeck, endliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2022. Dies sind die Abenteuer eines Protagonisten, der mit seinen sieben Gefährtinnen 35 Minuten lang unterwegs ist, um neue Welten zu erforschen, neues Leben und neue Zivilisationen - zumindest in den eigenen Köpfen und denen der Zuschauer.

Die Site Specific Performance (hier übersetzt als Tanz im öffentlichen Raum) mit dem Titel »Deck Three« ist am gestrigen Sonntag der offizielle »Auftakt« des TanzArt-ostwest-Festivals mitsamt kleiner Ansprache von Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher. Auf der Ebene 3 des Parkhauses Neustädter findet er im kalten Ambiente warme Worte für das Projekt von Tarek Assam, scheidender Ballettdirektor des Stadttheaters.

Choreografin Sara Angius hat ihr Stück mit dem Untertitel »Liminal Space« (begrenztes Weltall) versehen. Sie meint damit einen Traumort, der ihr als Universum für neue Erfahrungen dient, irgendwo zwischen dem Vertrauten und dem ungewissen Unbekannten.

Acht Tänzer in schwarzen Anzügen mit weißem Hemd und schwarzen Halbschuhen bilden ihre androgyne Crew. Die Italienerin setzt auf feminine Bewegungen, kombiniert Etabliertes mit neuen Einfällen und wirft die Frage auf: Kriegt der Captain am Ende eins der Mädchen?

Die ungastliche Kühle des Betons

Er kriegt keins. Auf der Reise durch die Weiten der menschlichen Psyche fährt zunächst lautlos ein hybrider Jeep Wrangler als Raumschiff vor, um froschgrün und metallisch glänzend das Betonterrain auszuloten, das mit seiner kühlen Ungastlichkeit nicht eben zum Tanzen einlädt, aber nun mal da ist.

»Changes« (Veränderungen) von David Bowie tönt aus den Lautsprechern, ehe Riccardo Ciarpella den dicken Wagen parkt, aussteigt und davonflanieren will. Er kommt nicht weit. An der ersten Ecke hält ihn eine imaginäre Kraft zurück. Er dreht wieder um.

Das wiederholt Ciarpella einige Male mit den zackigen Bewegungen des Verwundertseins. Hier ist jemand gefangen in seiner eigenen Gedankenwelt. Doch er weiß es noch nicht. Drum steigt Magdalena Stoyanova als Alter Ego aus dem Jeep und hilft ihm auf die Sprünge, ehe weitere Anzugträgerinnen folgen.

Der Donauwalzer von Johann Strauß erinnert dazu an Kubricks »2001: Odyssee im Weltraum«. Auch Josef Strauß schaut musikalisch vorbei, ebenso wie ein »Aphorisming« von Akira Rabelais.

Am Ende ist Ciarpella umringt von sieben Tänzerinnen, die ihn schützen, verführen und im Wortsinn verdrehen, ihm den Kopf kraulen und sogar als Fahrzeug dienen, wenn der Held dieses Traumschiffes den hochgestreckten Fuß einer Partnerin als Schaltknüppel nutzt. Doch der flotte Achter kommt nicht vom Fleck. Nach und nach verabschieden sich die Damen, respektive die Visionen des Helden zu Schuberts »Ave Maria«. Ciarpella bleibt allein zurück.

Bowie singt noch einmal kurz »Changes«, ehe sich der Einsame mit dem Handballen gegen den Kopf tippt und aufwacht. Der Spuk hat ein Ende. Tosender Applaus vom Publikum. »Deck Three« wird an gleicher Stelle am Freitag, 3. Juni (11 Uhr), noch einmal gezeigt.


Manfred Merz, 30.05.2022, Gießener Allgemeine Zeitung