Wenn der Wahn Sinn bekommt - Gießener Allgemeine Zeitung
27.09.2021

Eine Gesellschaft am Abgrund, mordlüstern und morbide. In seinem Tanzstück »Elektra« dringt Ballettdirektor Tarek Assam in die menschliche Psyche ein. Dort ist kein Licht am Ende des Tunnels.

Es geht um Leben und Tod, Liebe und Hass, Rache und Verzweiflung. Ohnmächtige Wut trifft auf Gewalt. Und dann ist da noch das mentale Korsett, das jedes Individuum einengt. In seinem neuen Tanzstück »Elektra« dringt Ballettdirektor Tarek Assam in die Abgründe der menschlichen Seele vor. Die Psyche begibt sich auf Achterbahnfahrt. Der Wahn bekommt einen Sinn, den Wahnsinn. Das Publikum im Stadttheater spendet nach der gut einstündigen Premieren-Show am Samstag mächtig Beifall.

Der erste Tanzabend der neuen Spielzeit im Großen Haus zeigt das Thema Blutrache in finsteren und edlen Bildern. Ohne sich zu sehr auf die griechische Tragödie einzulassen, ziehen sich Assam und sein Dramaturg Johannes Bergmann im Programmheft in eine Märchenwelt zurück, um den Inhalt des Stücks zu beschreiben.

Düsteres Gefängnis der Gewalt

Ihre Erzählung endet mit den Worten: »Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit Lebenden oder Verstorbenen sind unbeabsichtigt, aber möglich...«

Außer Elektra wirken nun plötzlich alle namenlos, wie Clint Eastwood im Western. Statt des Colts für alle Fälle gibt es Äxte. Zum Draufhauen. Das klirrt schön, wenn sie gegen die Metallstangen schlagen, die von der Decke hängen und die Drehbühne säumen, oder dumpf in die Umrandung des zentralen Badezimmers eindringen (Ausstattung: Annett Hunger). Hier, in diesem düsteren Gefängnis einer gewaltbereiten Gesellschaft, hat der Begriff Hacker seinen Ursprung.

Elektra (anfangs etwas blass, später farbiger: Madeleine Salhany) lebt in ihrer Gedankenwelt. Sie kämpft mit den elementaren Zutaten des Dramas. Die Familienbande sind zerrüttet, die dunkle Seite übernimmt das Ruder und steuert die junge Frau zielgenau zum Mittelpunkt der Macht: der eigenen Mutter (kraftvoll und ausdrucksstark: Magdalena Stoyanova).

Getanzt wird in wehenden expressiven Kostümen ganz im Assam-Style. Auf dem weißen Boden paaren sich akkurat bewegte Hände und Arme im punktgenauen Körperdesign mit der pulsierenden Musik. Es entstehen mal menschliche Menetekel, mal mordlüsterne Morbide, die im fahlen Licht jedem den Garaus machen können. Die Duette haben Power, die Gruppenszenen Eleganz.

Den Sound steuert Patrick Schimanski bei. Stampfende Rhythmen stehen bei dem gelernten Schlagzeuger im Fokus. Die Elektronik tobt. Es geräuschelt, pocht und hämmert. Ausrangierte Labormessgeräte knacksen. Ein akustischer Flügel plingt. Als Pseudo-Chor fungieren gesampelte Worte der Tänzer aus »Elektra«-Originalen.

Höhepunkt des Abends ist das impulsive Solo des Vaters (sensationell: Giovanni Fumarola als Kriegsveteran Agamemnon), bevor er nackt ins Bade steigt, um vom eigenen Weib und ihrem Lover mit der Axt die Kehle durchschnitten zu bekommen. Blind vor Wut begehen hernach Elektra und ihr Bruder den Doppelmord an der Mutter und ihrem Geliebten. Die einengende Halskrause als Schutz vor scharfen Äxten, aber auch als Gefangenensymbol legt Elektra ab, so wie die andern nach dem Mord an Agamemnon ihren Bekleidungspanzer von sich werfen.

Am Ende taucht die Tochter im Pool ins Reich der Verzweiflung ein. Sie will sich reinwaschen. Doch es ist kein Licht am Ende des Tunnels. Das Wasser des Lebens wird zum Blutbad, während draußen, vor den Gitterstäben, wehende Wutbürger im Sadomaso-Leibchen und sorglose Smartphone-Schwätzer Spaß haben an einem Leben ohne Sinn.


Manfred Merz, 27.09.2021, Gießener Allgemeine Zeitung